Dr. Gregor Gysi, MdB: Laudatio

Wenn wir heute Angela Davis ehren, würdigen wir nicht ausschließlich ihr persönliches Engagement. Angela Davis ist uns allen auch deshalb bekannt, weil sie eine Art Symbolfigur ist, die für antirassistische, für politische und soziale Kämpfe um Emanzipation aller steht. Mit ihr würdigen wir auch alle anderen, die in diesen Kämpfen gestanden haben und immer noch stehen. Gerade jetzt denken wir auch an die entsetzlichen Opfer des Rechtsterrorismus hier in Deutschland.

Ich glaube, es ist eine Art Würdigung, wenn ich über Protest, Widerstand und Befreiung spreche. Das ist mit Sicherheit ein Thema, das Angela Davis und die vielen Ungenannten zugleich betrifft.

Das erste Mal hörte ich von Angela Davis, und das dürfte den meisten hier so gegangen sein, im Zusammenhang mit einer Welle des Protests und der Solidarität im Zusammenhang mit ihrer Verhaftung und Anklage. Die Kampagne „Eine Million Rosen für Angela Davis“ lief in der DDR an. Nicht nur in den sozialistischen Ländern, sondern überall in der Welt wurde für ihre Freilassung gekämpft. Damals haben einige bei uns gedacht, Angela Davis wurde durch die DDR frei gekämpft. Das war ziemlich übertrieben. Aber unterschätzen darf man die Solidaritätsbewegung nicht. Die Justiz sah sich in Folge der weltweiten Öffentlichkeit gezwungen, die Rechtsstaatsnormen im Verfahren so genau wie möglich anzuwenden.

Doch zurück zu meinem Thema: Widerstand, Protest, Befreiung.

Max Weber hat Herrschaft so bestimmt, dass es eine Chance gibt, für einen „Befehl“ bei einem angebbaren Adressatenkreis seine Befolgung zu erzwingen. Durch den Ausdruck „angebbarer Adressatenkreis“ deutet sich eine institutionelle Verfestigung an. Beispiele für herrschaftliche Institutionen sind bürokratische Apparate, Betriebe, pädagogische Einrichtungen, soziale Konventionen, Kliniken, Kasernen und Gefängnisse. Die Verstetigung dieser Herrschaftsbeziehung ist ohne Legitimation, ohne Anerkennung der Herrschaftsbeziehung nicht denkbar. Nun hört sich Anerkennung nach einer guten Sache an, aber so gut ist sie häufig nicht. Es kann verschiedene Gründe für Anerkennung geben: Einsicht, Tradition, Charisma, aber auch Gewalt. In einer stabilen Herrschaftsbeziehung ist es in funktionaler Hinsicht gleichgültig, aus welchen Ressourcen sich der Legitimationsdiskurs bedient. Entscheidend ist die Stabilität.

Die Gesellschaftskritik imitiert die Situation, in der sich jemand fragt, ob die Legitimität der Herrschaftsbeziehung, die Befolgung von Befehlen, zu Recht oder zu Unrecht besteht. Diese Infragestellung der Herrschaftsbeziehung führt zu kritischen Theorien. Gesellschaftskritik, das will ich hier anmerken, versucht die Geste des Innehaltens, des Aussteigens aus dem unmittelbaren Gehorsam ins Normale zu wenden. So auch habe ich immer die Elfte Feuerbachthese von Marx verstanden, dass die Philosophen die Welt verschieden interpretiert hätten, es aber darauf ankäme, sie zu verändern. Die Theorie schafft nicht nur das Bewusstsein der Änderbarkeit der Verhältnisse; sie kann darüber hinaus nur dann erfolgreich sein, wenn sie zu einer Theorie der Veränderungswilligen wird. Eine Gesellschaftskritik, eine dialektische zumal, die nicht ihrerseits für das stets stattfindende Unrecht sensibel macht, wird daher auch ihrem Zweck niemals gerecht.

Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen. Sie kennen das alle aus der Zeit der sogenannten Rassentrennung. Es gab Parkbänke, auf denen ein Schild „Nur für Weiße“ angebracht war. Es bringt natürlich nichts, wenn ich mir als Weißer in Erinnerung rufe, dass ich keinerlei rassistische Vorurteile habe, und mich dann trotzdem auf diese Bank setze. Ich spiele dann einfach mit. Ich kann mitspielen in einem rassistischen Getriebe, ohne selbst ausgesprochen obskure Ansichten über eine angebliche Minderwertigkeit von Menschen anderer Hautfarbe zu haben. Ebenso spielen diejenigen mit, die schwarz sind, und sich nicht auf diese Bank setzen, obwohl ihnen vielleicht nach Sitzen zumute ist. Sie mögen widerwillig mitspielen, aber sie tun es. Hier geht es nicht um eine explizit rassistische Ideologie, aber doch um eine faktische Anerkennung der rassistischen Vorschrift. Diese mag aus Pessimismus heraus erfolgen, sie mag auch aus Angst vor Repressionen gespeist sein, sie ist also ganz anderer Art, aber sie hält die rassistische Grundstruktur ebenfalls am Laufen.

Und nun kommt es zu einem Akt zivilen Ungehorsams, den wir von Rosa Parks kennen. Sie hat sich geweigert, von ihrem Platz im Bus aufzustehen. Damit hat sie mehr getan, als nur die „öffentliche Ruhe“ gestört, wie das Gerichtsurteil dann lautete. Sie hat im Getriebe nicht mehr mitgespielt. Wir wissen alle, welche gravierenden Auswirkungen diese eine Handlung hatte, welchen Auftrieb sie der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gab. Vor allem aber, welche Ermutigung diese Handlung des zivilen Ungehorsam für so viele andere war. Mit einem Mal, eine Frau wird von der Polizei verhaftet und vor Gericht gezerrt, wird der Irrsinn einer rassistischen Praxis in einem Land deutlich, das sich als freies Land verstand, als Land der gleichen Rechte für alle. Dieses Selbstbewusstsein der Freiheit kollidierte mit dem Rassismus in den USA, der im Süden ja durchaus apartheidsähnliche Züge trug, auch deshalb so stark, weil die USA im zweiten Weltkrieg einen Krieg auch gegen den Faschismus führten, und damit gegen eine exzessiv rassistische Staats- und Gesellschaftsform. Die Rückkehr schwarzer GIs in ein Land mit ausgeprägtem Rassismus machte den Konflikt noch sichtbarer.

Und dieser Konflikt zwischen Freiheitspathos und Diskriminierung ist in den USA seit der Amerikanischen Revolution präsent. Ich bin keineswegs dafür, liberale Werte wie Freiheit und Rechtsgleichheit zu unterschätzen. Allerdings sollte man sie auch nicht überschätzen. Ich möchte Ihnen eine Passage aus der „Unabhängigkeitserklärung“ der Vereinigten Staaten von Amerika zitieren, nämlich „dass alle Menschen gleich geboren; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt sind; dass zu diesem Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit gehöre“. Diese Überzeugung wird in der „Erklärung“ als Evidenz, als keines weiteren Beweises bedürftig, ausgewiesen.

Thomas Jefferson gilt als der Autor dieser Erklärung. Ich stelle mir vor, wie er über den genauen Wortlaut des Textes nachgedacht haben mag, während auf seinen Feldern in Virginia Sklaven arbeiteten. Deshalb sollte man den Liberalismus eben nicht überschätzen. Natürlich hat Jefferson den Konflikt zwischen personaler Gleichheit und Sklaverei gesehen. Natürlich könnte man als Jefferson- Verteidiger sagen: „Ja, so waren eben die Zeiten.“ Umgekehrt sollte man aber sagen: Der Satz „So waren die Zeiten“ heißt übertragen in Klartext, Sklaverei war damals eine Ausbeutungsstruktur, die keineswegs als ehrenrührig galt. Und der Liberalismus war eine Befreiungsideologie, die nicht zu weit gehen wollte, die zum Beispiel Ausbeutungsverhältnisse unberührt lassen wollte. Die bürgerlichen Befreier befreiten nur ihre bürgerliche Existenz, die auch auf Ausbeutungsstrukturen basierte. Die Perspektive einer möglichen Aufhebung der Sklaverei wurde so ins Unbestimmte vertagt. Ebenso wenig ist der Liberalismus eine geeignete politische Ideologie, um das Herrschaftsverhältnis, das sich in der kapitalistischen Lohnarbeit und um sie herum ausformt, kritisch anzugreifen. Schließlich trifft das auch für die patriarchale Herrschaft in der bürgerlichen Familie zu.

Dennoch kann die Dominanz liberaler Ideologien dazu beitragen, dass Diskriminierungsstrukturen als systematische Verletzung der Gleichbehandlung sichtbar gemacht werden können. Das ist eine fortschrittliche Funktion des Liberalismus.

An diese fortschrittliche Funktion konnte die Bürgerrechtsbewegung appellieren. Das ermöglichte auch Solidaritäten in die Mehrheitsgesellschaft hinein, was schließlich auch zu Erfolgen führte. Der andere Aspekt jedoch, die Grenze des Liberalismus, brachte eine zunehmende Skepsis innerhalb der schwarzen Aktivistinnen und Aktivisten zur Bürgerrechtsbewegung hervor. Ich versuche mir das immer mit folgender Überlegung zu verdeutlichen. Nach der Sklavenbefreiung gab es formal zwar die Ausdehnung des Wahlrechts auch auf die schwarze Bevölkerung, und zwar durch den 14. und den 15. Verfassungszusatz. Jedoch wurde diese Emanzipation unmittelbar nach dem Abzug der Truppen des Nordens aus den Südstaaten wieder beseitigt. Die Wahlgesetze in den einzelnen Südstaaten wurden so ausgestaltet, dass kaum noch ein Schwarzer oder eine Schwarze wählen konnte, etwa durch die sogenannte Großvater-Klausel, so dass nur der wählen durfte, dessen Großvater schon gewählt hatte. Dazu gabe es eine Reihe weiterer Umgehungsklauseln und natürlich den Terror des Ku-Klux-Klans. Erst mit dem Voting Rights Act 1965 konnten die Schwarzen in den Südstaaten wirklich wählen. Vom Bürgerkrieg bis zum Voting Rights Act gingen also 100 Jahre ins Land, damit hinsichtlich des Wahlrechts die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika wirksam werden konnte. Es erscheint mir einleuchtend, dass das für viele schwarze Aktivistinnen und Aktivisten ein viel zu langer Zeitraum war. Es erscheint außerdem einleuchtend, dass man ja noch ein paar mehr Dinge im antirassistischen Kampf klären wollte. Und deshalb bildete sich der Argwohn, dass die Idee der Rechtsgleichheit eine für die Schwarzen irreführende Ideologie sein, dass das System für die Weißen und nur für sie gemacht sei. Die Schwarzen müssten sich auf ihre eigene Kraft besinnen, eine eigene Macht gegen das System bilden. Die Black-Power-Bewegung entstand, als militante Organisation innerhalb dieser Bewegung entstand die Black Panther Party.

Immerhin sickerten einige dieser Impulse auch wieder in die Bürgerrechtsbewegung ein, die sich ihrerseits radikalisierte. Beim späten Martin Luther King vernehmen wir eine radikalere Rhetorik. Auch ihm geht es darum, das Ganze der Gesellschaft, auch die Frage nach Produktion und Verteilung des Reichtums, als Quelle der Diskriminierung zu verstehen.

Auf Widerstand, der die Vehemenz einer beschaulichen Gartenparty überschreitet, der dann auch noch gegen das Establishment gerichtet ist, reagieren Staatsapparate im Allgemeinen nervös bis neurotisch. Mit der Ermordung von Martin Luther King erreichten die Sicherheitsapparate den Zustand der Hysterie. Die Maßnahmen etwa zur Bekämpfung der Black Panther Party sprengten vollständig die Legalität, wo sie es nicht vorher schon getan hatten. Nur aufgrund dieser aufgeheizten Situation ist erklärbar, weshalb eine junge Frau, die zufälligerweise schwarz und die Mitglied der Kommunistischen Partei war, die darüber hinaus engeren Kontakt zu einem inhaftierten Mitglied der Black Panther Party hatte, nicht einfach nur ins Visier des FBI geriet; nur so ist erklärbar, warum diese junge Frau mit einer so haarsträubenden und bedrohlichen Anklage konfrontiert werden konnte.

Angela Davis hat erst einmal nichts anderes gemacht, als sich in die Kämpfe ihrer Zeit einzumischen. Sie hätte es ebenso gut auch lassen und ihre akademische Karriere verfolgen können, und für den Erfolg als Akademikerin hätten ja eine Menge Gründe gesprochen. Aber um diesen bequemeren Weg zu gehen, hätte sie viel verdrängen müssen. Nehmen wir nur ihre Kindheit:

Angela wuchs im Süden der USA auf, in Birmingham, Alabama. Es war keine Kindheit in den Slums, sie wuchs in einem Elternhaus auf, das einer Art schwarzer Mittelschicht zugehörte. Aber der Stadtteil, in dem sie aufwuchs, wurde „Dynamite Hill“ genannt aufgrund des dort präsenten Ku-Klux-Klan-Terrors. Wenn Angela über ihre Kindheit spricht, spricht sie über den Klang explodierenden Dynamits. Und sie spricht über einen Erfahrungskontrast. Man stelle sich vor: Auf der einen Straßenseite wohnten Kinder aus weißen Familien, auf der anderen Straßenseite Kinder aus schwarzen Familien. Diese Kinder spielten nie miteinander, sie gingen nicht in dieselbe Schule, besuchten nicht dieselben Veranstaltungen. Man hatte absolut nichts miteinander zu tun, es waren komplett getrennte Welten. Dann, auch das gehört zur Kindheit, verbrachte sie mit ihrer Mutter einen Sommer in New York und das beschreibt sie immer noch mit dem Wort „Abenteuer“. In New York lebten Menschen unterschiedlichster Herkunft. Am Strand spielten die Kinder miteinander, gleichgültig welche Hautfarbe sie hatten. Dass man in einem Land so unterschiedliche Erfahrungen machen konnte, setzte sich bei ihr fest. Die Rassentrennung war für sie mit einem Schlag nichts Selbstverständliches mehr, auch wenn es im Süden weiter so schien. Schließlich: Angela Davis lebte in einem Elternhaus, das ihr das Bewusstsein gab, dass gegen Rassismus gekämpft werden muss. Dass der Rassismus nicht in Ordnung sein kann. Ihre Mutter engagierte sich in Organisationen, die den Kampf gegen den Rassismus führten, auch zusammen mit Mitgliedern der Kommunistischen Partei. Von daher kamen die ersten Erfahrungen über die aktive Rolle, die Frauen in kämpferischen Auseinandersetzungen spielen.

Als eine andere Prägung stellt sich die Zeit der High-School und ihres Studiums dar. Die High-School war keine staatliche Schule, sondern eine private. Genauer, es war die private Fortführung eines einstigen schulpolitischen Experiments, das aber während der McCarthy-Zeit beendet wurde. In dieser Zeit gab es nun aber viele arbeitslose fortschrittliche Lehrerinnen und Lehrer, und diese Lehrerinnen und Lehrer haben das Projekt auf privater Basis weitergeführt. Gelegentlich kann also private Bildung doch mal nutzen. Durch ein Stipendium des American Friends Service Committee, einer humanitären Quäkerorganisation, wurde der Schulbesuch ermöglicht. Hier kam Angela Davis in Berührung mit dem Marxismus und begann, sich politisch zu engagieren.

Ihre Studienzeit schlossen zwei Aufenthalte in Europa ein. Sie studierte in Paris, um dort einzusehen, dass Philosophie sie mehr interessierte. Zurück in den USA studierte sie bei Herbert Marcuse, der sie nach Frankfurt/Main vermittelte. Dort studierte sie bei seinen alten Kollegen Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas. Gleichzeitig engagierte sie sich wieder politisch, vor allem im SDS. 1967 kehrte Angela Davis in die USA zurück, um an den Bürgerrechtskämpfen teilzunehmen. Aber sie brachte auch etwas mit. Sie hatte das Handwerkszeug erlernt, um dasjenige, worum gekämpft wurde, geistig besser zu durchdringen.

Ich will dazu zwei Beispiele benennen, ein Beispiel ist sehr deutsch, das andere bringt Angela Davis selbst oft. Rassismus kommt in verschiedenster Gestalt vor. Zunächst einmal das sehr deutsche Beispiel: Vor einigen Jahren wollte die Jüdische Gemeinde in Leipzig ein Gebäude, das ihr ohnehin gehörte, als Gemeindezentrum nutzen. Das ging einigen Anwohnerinnen und Anwohnern zu weit und sie gründeten eine Initiative. Nicht, wie sie beteuerten, weil sie antisemitisch eingestellt wären, sondern weil sie Sorge um eine negative Entwicklung der Grundstückspreise hätten, da die Nutzung als jüdisches Gemeindezentrum antisemitisch motivierte Kriminalität anzöge. Damit verhielten sich die Anwohnerinnen und Anwohner klar antisemitisch. Denn sie machten zumindest bewusst die Existenz antisemitischer Einstellungen zu einem Faktor, der ihr Verhalten zu Jüdinnen und Juden bestimmte. Angela Davis bringt dazu in ihrer Autobiographie ein anderes Beispiel, das man als demonstrative Toleranz bezeichnen könnte. „Seht her, ich habe keine Probleme, mich mit Schwarzen zu zeigen!“ Das funktioniert als Demonstration des eigenen Liberalismus natürlich nur, weil es Rassismus als unterschwellig präsentes Praxismoment gibt.

Das ist ein Ideologieproblem der anspruchsvollen Art. Aber was ist Ideologie? Ein bloßes Überbauphänomen, wie man nach etwas oberflächlicher Marx-Lektüre annehmen könnte? Dann sollten eigentlich einige Bemühungen um Aufklärung ausreichen, so etwas Lästiges wie den Rassismus zu überwinden. Hier läuft man aber schnell Gefahr, sich in eine liberalistische Illusion zu verrennen. Oder wir begreifen Ideologie als etwas, das tief in unsere Gesellschaftsstruktur eingeschrieben ist. Ein gutes Beispiel liefert Marx’ Analyse des Warenfetischs. Die spezifischen Formen der gesellschaftlichen Arbeit erscheinen in dinghafter Gestalt, kleben an den Arbeitsprodukten. Ich kann mir nun 100 Mal am Tag einreden, dass ich das längst durchschaut habe; aber wenn ich ein Brot kaufe, schaue ich trotzdem, ob der Preis dieses Brots wirklich gerechtfertigt ist. Indem ich so handle, befestige ich aufs Neue die gesellschaftliche Praxis, die das Wert-Sein der einzelnen Waren konstituiert. Adorno, der manchmal sehr bündig formulieren konnte, meinte dazu, die Ware sei ihre eigene Ideologie.

Verstehe ich nun Ideologie im letzteren Sinn, als ein der Gesellschaftsstruktur Eingeschriebenes, sich durch Handeln stets Erneuerndes, reicht einfache Aufklärung nicht mehr aus. Nötig wird der Übergang zu dem, was Marx die „revolutionäre Praxis“ nannte. Engels formulierte dann etwas vorsichtiger „umwälzende Praxis“.

Ein Rassismusbegriff, der auf die Gesellschaftsstrukturen selbst abzielt, wird immer wieder bei der Konsequenz landen, dass Aufklärung wichtig ist, und zwar eine Aufklärung, die das Falsche in den Strukturen der Gesellschaft bewusst macht.

Das ist nun alles andere als altbackener Liberalismus.

Geht man aber über zu einer derartigen, ich würde sagen: materialistischen, Auffassung von Ideologie und Gesellschaftsstruktur, stellt sich immer auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen kapitalistischer Ausbeutung, Rassismus und Geschlechterproblematiken. Das hat den Marxistinnen und Marxisten lange, zum Teil völlig überflüssige, Debatten beschert. Die Linke hat sich immer für die Beseitigung von Unterdrückung eingesetzt, gleichgültig, in welcher Gestalt, in welchem Kontext sie auftritt. Herrschaftsstrukturen im modernen Kapitalismus äußern sich immer im Lohnarbeitsverhältnis, aber auch in der Unterdrückung von Frauen und in rassistischen Praktiken.

Die Unruhen in London und in anderen englischen Städten, die für viele Linke hierzulande nicht ganz verständlich schienen, weil so etwas wie politische Forderungen nicht erkennbar waren, entzündeten sich an der Tötung eines Migranten durch die Polizei, die nie aufgeklärt wurde. Was dabei in den deutschen Medien unterging – in den letzten Jahren gab es im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland viele ungeklärte Todesfälle im Polizeigewahrsam. Das wäre an sich schon beunruhigend. Dabei handelt es sich aber fast ausschließlich um Migrantinnen und Migranten bzw. – wie man vornehm in Deutschland sagt – Menschen mit Migrationshintergrund. Die Riots waren Ausdruck des Umstands, dass für viele Menschen der britische Rechtsstaat ein Repressionsstaat geworden ist, in dem ihre Rechte nicht viel zählen.

Nehmen wir ein anderes Beispiel. Die Außengrenzen der EU werden mit hohem, auch militärischem, Aufwand „gesichert“. Es gibt eine Flüchtlingsabwehr. Viele Aspekte dabei sind inhuman, ich beschränke mich auf einen. Den Flüchtlingen wird das Recht verwehrt, innerhalb der EU einen Asylantrag zu stellen, also in den Status von politisch Verfolgten zu kommen. Nicht das Asylrecht, könnte man zynisch kommentieren, wird ihnen verwehrt, sondern das Recht auf Antragstellung. Gleichzeitig ist Zuwanderung aus ökonomischen Gründen, sobald es sich um hochqualifizierte Fachleute handelt, erwünscht. Wenn Grundrechte bei einer definierbaren Gruppe von Migrantinnen und Migranten weniger zählen als ökonomische Kalküle, dann würde ich von einer rassistischen Struktur sprechen, die mit kapitalistischer Verwertungsrationalität aufs Engste verflochten ist.

In Deutschland hatten wir durch das Sarrazin-Buch eine besonders merkwürdige Debatte. Zunächst war die Aufnahme des Buchs in der Öffentlichkeit weniger ablehnend, sondern erfolgte nach dem Motto: Über Probleme muss man reden können. Ich würde sarkastisch anmerken, das ist ziemlich leicht, solange man nicht über den Grund dieser Probleme reden muss. Die Stimmung kippte erst, als jemand merkte, dass Sarrazin auch noch auf rassistische Weise über Jüdinnen und Juden sprach. Da erst fiel allen auf, dass Sarrazin wirklich Rassist ist.

Wie kann man das nun wieder erklären? Ich meine, das liegt an einem antiquierten Begriff des Rassismus. In Deutschland mag das erklärbar sein. Hier gab es die Nazizeit, der Rassismus der Nazis war eine Art des Rassismus, der heute weitgehend verdrängt worden ist. An seine Stelle ist eine Art Kulturalismus getreten, der eine Wertrangfolge von „Kulturen“ postuliert. Dieser Kulturbegriff ist wissenschaftlich unbrauchbar, das zeigen Kritiken zum Beispiel an Huntington, der einen „Kampf“ der Kulturen erfunden hat. Jedenfalls hat Kulturalismus heute dieselbe Funktion wie früher der biologistische Rassismus: Es geht um Ausgrenzung und Diskriminierung.

Angela Davis hat als Theoretikerin diese Problematik immer wieder untersucht. Und sie hat sich einem weiteren Problem zugewandt: der Funktion des Gefängnisses. Seit Foucault wurde eine Sicht auf Einrichtungen wie Gefängnisse in Umlauf gebracht, die das System des Strafens als Bestandteil eines Regimes der Disziplinierung, des Überwachens, des Ausschlusses von Menschen aus der bürgerlichen Gesellschaft versteht, deren reibungsloses Funktionieren abgesichert werden soll. Angela Davis untersucht einen weiteren Aspekt: Das Gefängnis wird seinerseits wieder zum Gegenstand kapitalistischer Verwertung. Das ist der Absatz von Waren, die im Gefängnis benötigt werden, das ist aber auch die Bereitstellung von billigen Arbeitskräften. Sie spricht von einem gefängnis-industriellen Komplex. Der Staat organisiert durch das Gefängnis eine Nachfrage und eine billige Herstellung.

Es ist mir einleuchtend, dass dieses Interesse auch biographisch motiviert ist. Angela war selbst inhaftiert, um nach 16 Monaten Untersuchungshaft von allen Anklagepunkten freigesprochen zu werden. Schon vorher war sie in der politischen Gefangenenarbeit aktiv. Das war das vielleicht wichtigste politische Arbeitsfeld vor ihrer Verhaftung. Zusammen mit dem inhaftierten Black-Panther-Mitglied George Jackson arbeitete sie an einem Buch über dessen Gefängniserfahrung.

Ich habe vorhin erwähnt, dass Angela Davis bequemere Wege hätte gehen können. Sicher, es gab Prägungen, aber die legen uns nicht fest. Wir können uns unterschiedlich entscheiden, trotz der Prägungen, ja sogar aufgrund der Prägungen. So wie wir uns zu ihnen verhalten, können wir uns auch zu Institutionen insgesamt verhalten. Darin unter anderem besteht unsere Freiheit. In diesem Sinn ist sie auch Voraussetzung jeder Befreiung. Diesen Satz, dass Befreiung Freiheit voraussetzt, habe ich übrigens bei Marcuse gelesen, einem der akademischen Lehrer von Angela Davis.

Liebe Angela, du hast dich aus freien Stücken zu einem Kampf mit sehr hohen Risiken entschieden. Das erfordert hohen Anstand und großen Mut. Dafür bewundere ich dich, dafür bewundern wir dich.
Danke.