Grußwort Karl Kopp / Pro Asyl

Im Mai 2010 feierte die EU-Grenzagentur Frontex ihr fünfjähriges Bestehen. In dieser halben Dekade sind tausende Bootsflüchtlinge auf dem Weg nach Europa gestorben und über 10.000 zwangsweise in Drittstaaten, wie Libyen, Marokko, Mauretanien, Türkei zurück verfrachtet worden. Frontex hat dieses menschenrechtliche Desaster nicht allein verursacht, jedoch ist diese EU-Agentur der Beleg der aktuellen Flüchtlingspolitik: Europa versucht bereits weit vor den eigenen Grenzen, Flüchtlinge und Migranten abzufangen und zurückzudrängen. Damit verschwinden die Orte der Menschenrechtsverletzungen und des Sterbens aus unserem Blickfeld. Gelangten im Jahr 2008 etwa 70.000 Bootsflüchtlinge lebend an die europäischen Küsten, so registrierte Frontex bereits 2009 nur noch knapp 45.000 Ankünfte. In den Sommermonaten 2010 war die Anzahl der ankommenden Boote so gering, dass selbst die alljährliche Berichterstattung über Flüchtlingsdramen im Mittelmeer und Atlantik weitgehend ausfiel.

Der Fischer Gaspare Marrone und seine Crew sind berühmt in Italien. Mehrfach haben sie in den letzten Jahren Bootsflüchtlinge gerettet. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen zeichnete sie für ihre Courage aus und sah darin auch einen Beitrag, um zu verhindern, dass Handelsschiffe in Not geratene Flüchtlinge im Mittelmeer einfach ignorieren und weiterfahren – aus Angst wegen der Beihilfe zur illegalen Einwanderung bezichtigt zu werden. Bitter nötig in einem Europa, in dem die humanitäre Hilfe, wie im Falle des deutschen Schiffes Cap Anamur und zahlreichen anderen Fällen, immer mehr kriminalisiert wird. Am 12. September 2010 befanden sich Marrone und seine Besatzung selbst in Lebensgefahr. Ihr Fischkutter wurde 30 Seemeilen vor der libyschen Küste in internationalen Gewässern beschossen: Die Maschinengewehrsalven feuerte ein libysches Patrouillenboot ab. Es war eines jener sechs Boote, die die italienische Regierung zur Flüchtlingsabwehr geliefert hatte. An Bord befanden sich pikanterweise auch Angehörige der italienischen Guardia di Finanza. Die Fischer kamen mit sehr viel Glück unversehrt davon. Italiens Innenminister Roberto Maroni sprach kurze Zeit später von einem „Missverständnis“. „Vielleicht haben sie gedacht, dass es sich um ein Boot mit Flüchtlingen handelte.“ Im Klartext: Der Beschuss von Flüchtlingsbooten gehört zum Selbstverständnis dieser Politik.

Zwei langwierige Gerichtsverfahren gingen im sizilianischen Agrigento im Oktober und November 2009 zu Ende. Zwei Prozesse, die nie hätten stattfinden dürfen. Angeklagt war die Crew der Cap Anamur, die 37 Bootsflüchtlinge im Juni 2004 vor dem sicheren Tod rettete.

Im zweiten Verfahren wurde sieben tunesischen Fischern der Prozess gemacht, die 44 Bootsflüchtlinge am 8. August 2007 aus Seenot gerettet haben. Der Kapitän der Cap Anamur, Stefan Schmidt, und Elias Bierdel wurden am 7. Oktober 2009 nach einem fast dreijährigen Prozess und die sieben Fischer am 17.11.2009 vom Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Einreise freigesprochen.

Aber die beiden tunesischen Kapitäne der „Morthada„ und der „Mohamed El Hedi“ wurden wegen angeblichen Widerstands gegen die Staatsgewalt und gegen ein Kriegsschiff zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Der damals diensthabende Kommandant der italienischen Küstenwache vertrat im Prozess die Auffassung, die Bootsflüchtlinge seien nicht in Lebensgefahr gewesen. Deshalb habe es sich nicht um eine Rettungsaktion gehandelt. Es sei die Pflicht der Küstenwache gewesen, die Einfahrt in italienische Gewässer zu verhindern. Die Manöver, mit denen die Kapitäne einer Kollision mit den Marineschiffen auswichen, wurden ihnen nun zur Last gelegt. Fakt ist: Den Flüchtlingen ging es gesundheitlich sehr schlecht. Allein drei von ihnen mussten umgehend nach ihrer Ankunft auf Lampedusa mit dem Rettungshubschrauber nach Sizilien ausgeflogen werden. Die beiden verurteilten Kapitäne gehen in die Berufung. Aber auch die freigesprochen Fischer haben bereits ihre berufliche Existenz verloren: Ihre Schiffe wurden konfisziert, ihre Fischereilizenzen nicht erneuert. Humanitäre Hilfe ist keine Straftat. Das gilt für tunesische Fischer ebenso wie für Kapitän Stefan Schmidt und Elias Bierdel, deren Prozesse und Freisprüche zum Tribunal gegen die Kriminalisierung der Hilfe auf Hoher See wurden. Unsere Solidarität muss jetzt vor allem diesen sieben tunesischen Lebensrettern gelten, deren Existenz vernichtet wurde.

Bereits von den quälend langen Verfahren ging eine verheerende Signalwirkung aus. Bootsflüchtlinge berichten immer häufiger, dass Schiffe an ihren seeuntüchtigen Booten vorbeigefahren sind, ohne zu helfen. Ende Juli 2009 verließen 82 Bootsflüchtlinge aus Eritrea, Äthiopien und Nigeria mit einem Schlauchboot Libyen – unter ihnen 25 Frauen, zwei von ihnen schwanger. Nachdem sie die Orientierung verloren hatten und ihnen der Treibstoff ausging, trieben sie drei Wochen lang hilflos im Seegebiet zwischen Libyen, Malta und Italien. Am 20. August rettete ein italienisches Boot die fünf Überlebenden und brachte sie nach Sizilien: 77 Menschen waren während dieser Odyssee gestorben. Viele Schiffe hätten das wochenlang dümpelnde Boot passiert, ohne zu helfen. Die fünf überlebenden Bootsflüchtlinge berichteten nach ihrer Ankunft auf der italienischen Insel Lampedusa, dass Angehörige der maltesischen Marine sie zwar auf hoher See gesichtet, ihnen aber nicht geholfen haben. Lediglich Lebensmittel und Schwimmwesten seien ihnen zugeworfen wurden.

Die italienische Küstenwache hat allein seit Mai 2009 über 2000 Bootsflüchtlinge in die „libysche Hölle“, wie eine eritreische Flüchtlingsfrau die Haftlager von Gaddafis Regime einmal wörtlich nannte, zurückverwiesen. In den libyschen Auffanglagern kommt es regelmäßig zu Misshandlungen, Vergewaltigungen, Folter und Ermordungen. Italiens Minister Maroni lobt dagegen diese gemeinsamen Militäroperationen mit Libyen und spricht von einem „Modell für Europa“ im Kampf gegen „illegale Einwanderung“. Italien versenkt aktuell die Menschenrechte im Mittelmeer und die EU-Kommission schweigt. Anstatt die Regierung in Rom zu sanktionieren, verhandelt sie unter Hochdruck mit Tripolis über ein „Kooperations- und Partnerschaftsabkommen“, um die Zusammenarbeit bei der Flüchtlingsbekämpfung zu intensivieren. Geplant ist beispielsweise ein Grenzkontrollsystem, bestehend aus einer kombinierten Radar- und Satellitentechnik, das die 400 Kilometer lange libysche Landgrenze zum Niger und zum Tschad überwachen soll. Seit Jahren hofieren die EU und ihre Mitgliedstaaten das diktatorische Regime von Muammar al-Gaddafi. Libyen wird nicht nur mit Schiffen, Fahrzeugen, Leichensäcken und Geldern für Abschiebungsflüge und Haftanstalten beliefert; Frontex verhandelt mit dem Regime seit geraumer Zeit auch ein sogenanntes Arbeitsabkommen.

Aber auch in der jüngeren Vergangenheit waren die Frontex-Verbände mit deutscher Beteiligung bereits an Zurückweisungen nach Tripolis beteiligt. Mitte Juni 2009 wurden 74 Bootsflüchtlinge, darunter Frauen und Kinder, südlich von Malta auf hoher See von der italienischen Küstenwache aufgebracht und dann einem libyschen Patrouillenboot übergeben. Beteiligt war auch eine deutsche Hubschraubereinheit. Die deutsche Regierung beteuert, die Aktion der italienischen Küstenwache sei keine Maßnahme im Rahmen der Frontex-Seeoperationen vor Malta gewesen. Die deutsche Hubschrauberbesatzung hatte die Informationen über die Ortung eines Flüchtlingsboots „zuständigkeitshalber“ an die maltesischen Kollegen weitergegeben. Diese wiederum gaben die Informationen an die Italiener weiter und die verständigten die „libyschen Kollegen“. Für zurückgeschobene Flüchtlinge ist die Frage, wer alles an diesem arbeitsteiligen Völkerrechtsbruch beteiligt war, unerheblich, sie kämpfen um ihr nacktes Überleben in den libyschen Haftlagern.

Wo Frontex operiert, gibt es per definitionem nur „irreguläre Migration“, die gemeinsam mit „Partnerstaaten“ wie Libyen zu bekämpfen ist – egal, welche menschenrechtlichen Standards diese Staaten haben. Frontex agiert in einer rechtlichen Grauzone. Das ist kein Zufall, der frühere sozialdemokratische Bundesinnenminister Otto Schily und seine Amtskollegen wollten dies so. Im Mandat der Agentur tauchen Flüchtlings- und Menschenrechtsbelange nicht auf.
Der Haushalt der Grenzagentur steigt rasant: im Jahr 2005 waren es noch 6,2, vier Jahre später bereits 83 Millionen Euro. Der Löwenanteil wurde bis jetzt für Koordination der Seeoperationen in der Ägäis, im zentralen Mittelmeer und im Atlantik verwandt. Frontex-Einheiten jagen Flüchtlingsboote und bringen sie auf. Besteht ein Abkommen mit den jeweiligen Transitstaaten, operiert die Armada bereits in deren Territorialgewässern, beispielsweise von Mauretanien und des Senegals. Im Jargon der Grenztechnokraten heißt dieses häufig Leben gefährdende Vorgehen: die Boote werden „umgeleitet“. Allein im Jahr 2008 wurden knapp 6.000 Bootsflüchtlinge Opfer dieser Seeoperationen. Die Frontex-Verbände unter Führung Spaniens haben sie wie Stückgut nach Westafrika zurück geschickt. Wie dieses „Umleiten“ von Schiffen verläuft, welche Menschen davon betroffen sind und was mit ihnen anschließend geschieht, erfährt die Öffentlichkeit nicht.

Dass die Grenzagentur nunmehr Polizeiabkommen mit diktatorischen Regimes abschließen darf, ist ein menschenrechtlicher Skandal. Künftig sollen Frontex-„Projekte“ und der Einsatz von Verbindungsbeamten für „out of area“-Einsätze in Staaten entlang der Fluchtrouten ermöglicht werden, zur Zeit verhandelt die EU einen Verordnungsvorschlag, der genau diese Erweiterung des Mandats von Frontex vorsieht. PRO ASYL fordert in einer aktuellen Kampagne vom Europaparlament das Ende aller Zahlungen und jeglicher Kooperationen mit dem Regime Gaddafis in Fragen der Flüchtlingspolitik.

Das Abdrängen, das Zurückweisen und das Sterbenlassen von Bootsflüchtlingen, ob von EU-Mitgliedstaaten oder Frontex-Einheiten, muss endlich aufhören.

Die Verleihung des „Internationalen ethecon Blue Planet Award 2010“ an Elias Bierdel er-innert auch an das dramatische Schicksal der 37 Bootsflüchtlinge, die die Crew der Cap Anamur vor dem sicheren Tod bewahrte. Die Geretteten wurden inhaftiert und alle – mit einer Ausnahme – postwendend nach einem rechtswidrigen Verfahren abgeschoben. Mohammed Yussif war einer der zurückverfrachteten Bootsflüchtlinge. Im April 2006 starb er mit zwanzig weiteren Menschen beim zweiten Versuch nach Europa zu gelangen. Ihr Boot kenterte in stürmischer See bei Lampedusa.

Mutige Menschen wie der Preisträger Elias Bierdel, die Kapitäne Stefan Schmidt und Gaspare Marrone, die tunesischen Fischer Abdelbasset Zenzeri und Abdelkarim Bayoudh leisten ihren Beitrag für mehr Menschlichkeit und damit auch für ein anderes Europa. Sie haben das aus ihrer Sicht Selbstverständliche getan und mussten dafür einen hohen Preis bezahlen. Sie auszuzeichnen bedeutet auch eine Ermutigung für die vielen Initiativen in Europa, Bürgerinnen und Bürger an den Küsten, die sich für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten und ein Ende des täglichen Sterbens einsetzen.