Hubert Ostendorf: Rede Zivilcourage

Wider die Angst – Vom zivilen Widerstand zum Systemwechsel

Rede von Hubert Ostendorf/Düsseldorf
(Journalist und Galerist)

– es gilt das gesprochene Wort –

Liebe Freundinnen und Freunde von ethecon,
auf der letzten ethecon-Tagung im Frühjahr hat unser Gründungsstifter Axel Köhler-Schnura an dieser Stelle an den schrecklichen Amok-Lauf von Winnenden erinnert, der das Land damals gerade erschütterte. Seine Deutung dieser Tat entsprach allerdings keineswegs bürgerlichen Interpretationsmustern. Axel hatte zu Recht das Bild einer Gesellschaft gezeichnet, in der der Mensch den Verwertungsinteressen des Marktes unterworfen wird und in der die Moral allenfalls noch als Zuchtmittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung instrumenta-lisiert wird, anstatt ihr tatsächlich im Sinne einer humanen und gerechten Gesellschaft und Welt zu ihrem Recht zu verhelfen.

Auch ich möchte eine aktuelle Meldung aufgreifen, die die Nation, oder wenigstens deren gewinngeleitete Medienkonzerne, bewegt hat: den Freitod des Nationaltorwartes Robert Enke.

Wer mich kennt, weiß, dass ich mich nie für Fußball interessiert habe. Doch seitdem mein Sohn Oliver, er ist 12, diesen Sport über alles liebt, gehe ich sogar schon mal ins Stadion. Zum Glück gibt es bei unserem Verein Fortuna Düsseldorf auch dank des Einsatzes der Toten Hosen eine ausgeprägte Fan-Kultur gegen rechts.

Robert Enke also. Sein tragischer Freitod hat nicht nur die Fußball-Welt erschüttert. Die Betroffenheit war groß, die Trauerfeier im gefüllten Stadion von Hannover 96 noch größer. Die junge Witwe bekannte im Blitzlichtgewitter, dass die Liebe zueinander nicht geholfen hat, Robert über den Verlust der kleinen, herzkranken Tochter hinwegzuhelfen. Und Bundestrainer Joachim Löw bekannte, er habe von der Depression seines Keepers nichts gewusst, gleichwohl aber viele gute Gespräche mit ihm Keeper geführt.

Die ganze Analyse blieb an der Oberfläche. Niemand hat ein Leistungssport-System gegeißelt, das nur noch von der Macht des Geldes regiert wird. Ein System, das die Gier der Sponsoren bedient und mit seinen mörderischen Ansprüchen an die Disziplin der teuer erkauften Kicker auf die Gesamtgesellschaft ausstrahlt. Dort, ganz unten, werden bis in den Bereich der untertariflichen Sklavenjobs die Arbeitsbedingungen immer härter. Und diejenigen, die sich den kranken und krankmachenden Systemen unterwerfen, halten deren An-sprüche, die sie mit letzter Kraft erfüllen, oft noch als Ideal aufrecht und positionieren sich all willfährige Helfer.

All das kommt nicht von ungefähr. Die Propagandisten des „freien Unternehmertums“ und der „Eigenverantwortung“ haben den Karren in den letzten Jahrzehnten gehörig gegen die Wand gefahren: Milliardenverluste von Kleinanlegern, Millionen Kurzarbeitende und Erwerbslose, eine dramatische Zunahme von Armut und Hunger weltweit, der drohende Klimakollaps … Dennoch wollen die ökonomischen und politischen Eliten am Steuer bleiben. Es geht schließlich nicht zuletzt um ihren Profit und ihre Privilegien. Um die Stabilität ihres Wirtschaftssystems. „Die Sklavenhalter von heute sitzen in den Börsen“, hat der Publizist Eren Güvercin gesagt. Und der Schweizer Soziologe und Globalisierungsgegner Jean Ziegler spricht von der „Tyrannei des globalisierten Finanzkapitals“.

Heute, parallel zu unserer Tagung, beispielsweise treffen sich im noblen Berliner Hotel Adlon Topmanager, Aufsichtsräte und Spitzenpolitiker zum elitären Plausch. Dieses „Klassen“treffen im Adlon unter Schirmfrauschaft von Kanzlerin Angela Merkel wird mit Sicherheit darüber beraten, wie sie die Folgen ihrer Krise auf uns abladen. Dabei haben sie deutlich Furcht vor sozialer Unruhe.

Kein Wunder: In Frankreich haben Arbeiter in vielen Betrieben Manager entführt, um ihre Forderungen durchzusetzen. Warum sind wir in Deutschland eigentlich so geduldig? Warum schlucken wir die Hoffnungslosigkeit in Beruf und Alltag, die Erniedrigung, die wir auf den Ämtern erfahren, die Schikanen rassistischer Polizeikontrollen, die ständige Konkurrenz und die Zumutungen des Kapitalismus? Warum lassen wir uns mit Brotkrumen von Ämtern und Arbeitgebern abspeisen, anstatt die Buffets der Privilegierten zu stürmen? Warum protestie-ren nicht viel mehr Menschen gegen Sozialabbau, Privatisierung, Abschiebung von sog. Migranten, Verdummung durch Konzernmedien und den ökologischen Kollaps.

Letzteres Problem liegt mir besonders am Herzen. Die soziale Frage wäre ja theoretisch lösbar, der verheerende Prozess der Zerstörung unseres Planeten, der weitere soziale Erosionen nach sich zieht, ist unumkehrbar. Warum nehmen wir es hin, dass die Klimakonferenzen sich den Diktaten der emittierenden Staaten und deren Konzernen unterwerfen? Warum schreiben sogar bürgerliche Zeitungen, der Gipfel von Kopenhagen sei eine „Farce“? Ich bewundere Menschen, wie unsere frühere Blue-Planet-Preisträgerin Diane Wilson, die die Zerstörung des Planeten an ihrem eigenen Körper versinnbildlicht und dies unter großen Entsagungen: Diane ist seit fast vier Wochen im Hungerstreik für das Klima – zusammen mit anderen. Wa-rum lassen wir es zu, dass Konzerne wie Nestlé und Monsanto, wie hier bereits in den Vorjahren kritisiert, versuchen, sich den Wasser- und Lebensmittelmarkt durch Monopolisierung und Gentechnik weltweit unter den Nagel reißen? Warum lassen wir es zu, dass Konzerne wie Formosa Plastics und andere, die alle den Black Planet verdient haben, die Lebens-grundlagen der Erde mit ihren Giften vernichten?

Doch die Krise trifft – wie immer – nicht alle Menschen gleich. Auf der südlichen Hemisphäre, wo immerhin 4,5 Milliarden der 6,7 Milliarden Menschen leben, fordert die Klimakatastrophe etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, ungleich mehr Opfer als im Norden – die Eliten auch hier ausgenommen. Gleichzeitig keimt im Süden die Hoffnung auf ein Ende von Ausbeutung, Hunger und Ökokollaps. Schon im letzten Jahr wurde an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass etwa in Venezuela die absolute Armut überwunden wurde, während gleichzeitig der Hunger in den USA in einem nie gekannten Ausmaß zugenommen hat und weiter zunimmt. Jean Ziegler hat darauf hingewiesen, dass in Bolivien zum ersten Mal seit 500 Jahren ein Indio demokratisch gewählter Präsident ist. Ziegler wörtlich: „Eine unglaubliche Identitätsbewegung ist im Gange, eine demokratische Widerstandsbewegung, die aus den fünf großen indianischen Völkern des Andenhochlandes hervorgeht. Evo Morales hat dank dieser Widerstandsbewegung die Macht, über 200 ausländische Konzerne zu über-nehmen und ganz neue Bedingungen zu diktieren. Plötzlich hat dieser bitterarme bolivianische Staat das Geld, sein Volk aus dem Unglück und dem Hunger zu führen.“

Wer den ethecon-Reichtumsbericht gelesen hat, weiß etwa, dass die fünfhundert größten Privatkonzerne der Welt nach Weltbankstatistiken gemeinsam mehr als 52 Prozent des Weltsozialproduktes beherrschen. Dieses Finanzkapital in den Händen einiger westlicher Oligarchen hat laut Jean Ziegler eine Macht, „die nie zuvor in der Geschichte der Menschheit ein König, ein Kaiser oder ein Papst gehabt hat.“ Diese Finanzdiktatur werde von den südlichen Völkern als letzte Etappe der Ausbeutung und Unterdrückungsstrategie des Westens gesehen. Die Sklavenhalter in den Börsen, bestimmen die Rohstoffpreise durch Spekulation und sind mitverantwortlich für den Hunger auf unserem Planeten. Immerhin: Fast ein Sechstel der Menschheit hat nichts, kaum etwas oder gar nichts zu essen, ein trauriger Rekord, Tendenz steigend. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter 10 Jahren. Und das auf einem Planeten, auf dem es unermesslichen Reichtum gibt. Jean Ziegler hat schon vor Jahren die Welt mit seiner drastischen, moralisierenden Feststellung aufgerüttelt: „Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.“ Die Physikerin, Ökofeministin und Begründerin der Erddemo-kratie, Vandana Shiva, die im vorletzten Jahr den Blue Planet Award bekommen hat, hat sich kaum weniger deutlich echauffiert: „Wie kann es sein, dass Bauern und ihre Kinder in Indien verhungern? Ausgerechnet die, die Nahrungsmittel anbauen.“ Und sie lieferte die Antwort gleich mit. Die Tatsache, dass Konzerne sie abhängig machen von Saatgut und Pestiziden, oft gentechnisch verändert, obwohl es einen Sortenreichtum im Land gibt, die Tatsache, dass die Welthandelspreise von eben diesen Konzernen bestimmt werden, lässt Kinder und Menschen verhungern. Ich wiederhole Jean Ziegler: „Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.“ Und beziehe mich auf ihn, wenn ich hier, an dieser Stelle, auf dieser Tagung einen „Aufstand des Gewissens“ fordere.

Aber große Worte genügen nicht, ebenso wenig wie „blindwütige Karitativität“, wie es der Künstler Jörg Immendorff einmal formuliert hat. Es gilt, den konkreten Menschen in den Blick zu nehmen und ihm in seinen Nöten beizustehen. Aber auch DAS reicht nicht. Es reicht auch nicht, Obdachlosen etwas zu Essen zu geben oder ein Dach über dem Kopf – um einmal von meiner beruflichen Arbeit zu sprechen. Wir müssen die Ursachen für zunehmende Verarmung klar benennen und kommen nicht umhin, unbequeme Wahrheiten deutlich auszusprechen, auch wenn das oft ein gehöriges Maß an Zivil-Courage verlangt.

National-Torwart Robert Enke war psychisch krank. Er ist aber auch an den Bedingungen eines kranken Systems zugrunde gegangen, das sich im Leistungssport widerspiegelt, aber Symptom für die Verfasstheit einer gesamten Gesellschaft geworden ist. Das kranke System heißt Kapitalismus. Der Aufstand des Gewissens erfordert es, dieses kranke System zu überwinden. Wir brauchen nicht mehr Wirtschaftswachstum sonder mehr Gerechtigkeit. Wir brauchen nicht mehr Konsumgüter für alle, sondern mehr echte Lebensmittel im besten Sinne des Wortes. Wir brauchen den globalen Widerstand gegen ein gefräßiges System, das die Menschen nur noch unter den Aspekten der Verwertbarkeit einordnet. Wir brauchen ein Menschenbild, das an den Interessen der Armen und Ausgegrenzten orientiert ist und nicht an denen der Reichen.

Das Motto von ethecon heißt es: „Das Problem ist nicht das gesellschaftliche Symptom. Das Problem ist das gesellschaftliche System.“ Auch wenn wir mit dieser Einschätzung nicht allein dastehen, so hat sich doch in der Vergangenheit gezeigt, wie wichtig es ist, immer wieder daran zu erinnern, die Ursachen in den Blick zu nehmen. Der konsequent konzernkritische Ansatz von ethecon, der immer schon in der Arbeit der Coordination gegen Bayer-Gefahren, in deren Vorstand ich bin, wichtig war, unterscheidet uns von den meisten anderen NGOs. ethecon ist oft kritisches Korrektiv in einer Zeit, in der selbst der Umweltschutz unter die Räder des Kapitals gerät. Mit Greenwashing und zweifelhaften Pseudolabels werden längst schon ökologische Kapitalverbrechen beschönigt. Tetra Packs etwa werden neuerdings als besonders umweltfreundlich, weil angeblich nachwachsend, verkauft – der blanke Hohn. Und oft findet sich bei solchen Lügenaktionen noch ein „gemeinnütziger“ Verband, der Brief und Logo darauf gibt.

ethecon ist anders. Wir sind unbestechlich, unbequem und beharrlich. Wir suchen die Kooperation von Menschen vieler weltanschaulicher Richtungen – Nazis ausgenommen. Wir bleiben aber bei unserem Grundsatz, das Übel zu benennen. Wir alle können stolz darauf sein, dass wir heute hier sind. Aus einem kleinen Pflänzchen ist mittlerweile ein noch immer kleiner, aber starker Baum geworden. Wir alle haben dazu beigetragen, das zarte Pflänzchen zu gießen. Und wir sollten alles in unserer Macht Stehende tun, dass unser Baum weiter wächst. Uri Avnery, den wir heute mit dem Blue-Planet-Award ehren, und Andre Shepard, der im Irak-Krieg desertiert ist, haben ihr Leben riskiert, um für den Frieden einzustehen. Sie sind nur zwei von uns, denn wir sind viele. Hier, heute, morgen und überall. Lasst uns ethecon zu einer starken Stiftung für Frieden, Gerechtigkeit und einen lebenswerten blauen Planeten machen. Helft mit. ethecon braucht euch und die Welt braucht ethecon.