Dankesrede: Prof. Jean Ziegler

Meine Damen und Herren, liebe Freunde, liebe Freundinnen, ich wage nicht zu sagen Genossinnen und Genossen, obschon das die schönste Anrede ist, die ich kenne,

ich danke ganz, ganz herzlich dem Preiskomitee, vor allem natürlich Axel Köhler-Schnura, für die ganz große Ehre, die mir hier zu Teil wird. Ich danke Ihnen ganz herzlich. Es ist nämlich nicht nur eine Ehre, sondern es ist auch absolut eine Waffe im Kampf, den ich von sehr minoritären Positionen aus führe, im Menschenrechtsrat. Es stärkt diesen Kampf und ich bin für diese Solidarität außerordentlich dankbar. Ich bin auch sehr glücklich, hier zu sein heute, und danke vor allem meinem Freund Hans See für die blitzgescheite, sehr, sehr kluge Laudatio. Ich bin sehr, sehr dankbar.

Wenn ich zu meiner Person etwas sagen will, sage ich das mit Jean Paul Sartre. Am Schluss seiner Autobiografie „Les mots“ heißt es: „Un homme, fait de tous les hommes et qui le vaut tous et qui vaut n’importe qui.” Das heißt: “Ein Mensch, gemacht von allen Menschen, der gleichwertig ist, mit jedem und der jedem verpflichtet ist.“ So sehe ich es auch – ich bin eben ein ganz normaler Mensch – und was mich allerdings dabei am meisten stört, das ist meine Ineffizienz. Ja, doch! Meine Ineffizienz, und die werde ich Ihnen gleich beweisen.

Das Thema für meine halbe Stunde war das tägliche Massaker des Hungers. – Wo ist Hoffnung? Die Thesen meines letzten Buches „Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt“. Ein beschränktes Thema, ein präzises Thema – wir kommen zehn Etagen herunter von der konzeptuellen Analyse und den klugen Worten von Hans See, auf eine beschränkte, konkrete Thematik.

Vorbemerkung: Die Definition des Menschenrechts auf Nahrung, wie sie im UNO-Pakt für Wirtschafts- und soziale Rechte steht, lautet: „Das Recht auf Nahrung ist das Recht, unmittelbar oder durch finanzielle Mittel einen regelmäßigen, dauerhaften und freien Zugang zu einer qualitativ und quantitativ ausreichenden Nahrung zu haben, die den kulturellen Traditionen des Volkes entspricht, dem der Verbraucher angehört, und die ein physisches und psychisches, individuelles und kollektives, befriedigendes und menschenwürdiges Leben ermöglicht, das frei ist von Angst.“ Unter den 31 Menschenrechten der Universellen Deklaration der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 ist das ganz sicher jenes Menschenrecht, das am brutalsten und permanentesten verletzt wird auf diesem Planeten.

Sie kennen das Ausmaß der Katastrophe: Alle fünf Sekunden – so sagt es der World Food Report der WFO (World Food Organisation/Welternährungsorganisation) vom letzten Jahr – alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 57.000 Menschen sterben jeden Tag am Hunger und eine Milliarde Menschen ist permanent schwerst unterernährt, verkrüppelt – kein menschenwürdiges Leben, kein sexuelles Leben, kein Arbeitsleben etc. – durch permanente schwere Unterernährung. Und derselbe World Food Report, der die Opferzahlen nennt, die nicht bestritten sind von irgendjemandem, sagt, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase der Entwicklung der Produktionskräfte, problemlos normal – 2.200 Kalorien pro Individuum pro Tag – zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte. Also fast das Doppelte der Weltbevölkerung. Zu Beginn dieses Jahrtausends gibt es keinen objektiven Mangel mehr.

Es war anders vor 100 Jahren, da sind Menschen ausgewandert aus Tirol, Baden-Württemberg, Engadin, über die Meere, um dem Hunger zu entkommen. Marx ist am 14. März 1883 gestorben in der absoluten Überzeugung, dass das verdammte Paar, wie er gesagt hat, des Herrn und des Sklaven, die Menschheit noch über die Jahrhunderte begleiten werde – also der Kampf um die wenigen ungenügenden Güter, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Der objektive Mangel, entgegen der Annahme von Marx, ist verschwunden dank einer unglaublichen Serie von industriellen, technologischen, elektronischen Revolutionen, die die Produktionskräfte der Menschheit unglaublich gesteigert haben in den letzten vier, fünf Generationen.

Ein Kind, das in dem Moment, in dem wir hier reden, an Hunger stirbt, wird ermordet. Es geht nicht um Produktion von Nahrung, es geht um Zugang zu Nahrung und Zugang zu Nahrungswirtschaft, um die Kaufkraft.

Ich könnte Ihnen andere Zahlen geben, aber ich will Sie nicht langweilen heute Abend mit Zahlen. Nur noch eine Zahl aus der UNO-Statistik, aus der Weltbankstatistik genauer gesagt: Die Menschheit verliert, das wissen Sie, jedes Jahr etwa ein Prozent ihrer Substanz. Wir sind sieben Milliarden Menschen, 70 Millionen Menschen verlassen also diesen Planeten, alle Todesursachen zusammengenommen, in einem Jahr. Letztes Jahr sind von den 70 Millionen Menschen, die – alle Todesursachen zusammengenommen – diesen Planeten verlassen haben, die gestorben sind, 18,2 Millionen am Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen gestorben. Auf diesem Planeten, der vor Reichtum überquillt! Auch in diesem Moment jetzt, ist der Hunger bei Weitem die bedeutsamste Todesursache.

Wer sind die Mörder, wer sind die Komplizen? Die Komplizen sind wir, solange wir schweigen. Und das muss nicht so sein, dazu sage ich dann noch etwas am Schluss. Wir lassen sie verhungern. Wer sind die Täter?

Da möchte ich zunächst zwei Unterscheidungen treffen – Professoren sind milieugeschädigt. Also mache ich eine schematische, pädagogische Unterscheidung: Landbevölkerung und Stadtbevölkerung. Etwa die Hälfte der Weltbevölkerung, mehr oder weniger also 3,9 Milliarden Menschen, lebt auf dem Land, produziert ihre Nahrung theoretisch selbst. Und die andere Hälfte, die Stadtbevölkerung, muss ihre Nahrung kaufen muss.

Die mörderischen Mechanismen sind verschieden für beide Bevölkerungstypen. Ich korrigiere die Aussage, die ich gemacht habe – Sartre hat gesagt „La realité est toujours impure.“ (Die Realität ist immer unrein.) Wenn man die zwei Kategorien gegenüber stellt und auseinander definiert, dann vergisst man nämlich, dass 43 Prozent der Kleinbauern, Pächter, Tagelöhner einmal im Jahr für vier, fünf Monate, in der Frist zwischen dem leeren Speicher und der neuen Ernte, in der Zeit, die man auf Französisch „la soudure“ nennt, ebenfalls am Markt Nahrungsmittel kaufen müssen – und dabei zumeist die nächste Ernte bereits verpfänden müssen. Also, die Trennung halte ich aufrecht aus pädagogischen, aus didaktischen Gründen, damit wir schneller vorwärts kommen, aber sie ist nicht präzise.

Zehn internationale Konzerne beherrschen, kontrollieren heute 85 Prozent aller gehandelten Nahrungsmittel. Ich rede hier vor allem von den Grundnahrungsmitteln, das sind Mais, Reis, Getreide, die ihrerseits 75 Prozent des Weltkonsums abdecken, davon Reis ungefähr die Hälfte. Ich habe genug Verleumdungsprozesse am Hals gehabt und sage es dennoch ganz klar: Es sind diese Konzerne, die jeden Tag entscheiden, wer isst und lebt, oder wer hungert und stirbt. Und: Das ist normal und legal. Konzerne funktionieren nach Profitmaximalisierungsstrategien. Die sind nicht da, um den Hunger in der Welt zu bekämpfen. Es geht auch nicht um psychologische Analysen, also der Hans See ist der Gute und der Präsident von CARGILL ist der Böse, so einfach ist es nicht. Ich nehme Peter Brabeck, den Präsidenten des weltgrößten Nahrungsmittelkonzerns NESTLÉ. Das ist ein eher zivilisierter Mensch, ich begegne ihm beim Skifahren in den Hoch-Savoyen hin und wieder, wir reden nicht viel aber wir grüßen und so. Der kann lesen und schreiben, ist ein eher zivilisierter Mensch – aber wenn der nicht alle Jahre den Shareholder Value, also die Rendite auf das eingesetzte Kapital, in die Höhe jagt um so und so viel Prozent, ist er eben nach drei Monaten nicht mehr Präsident von NESTLÉ. In der kannibalischen Weltordnung des Kapitalismus geht es um strukturelle Gewalt und nicht um psychologische Motivation. Es geht um die strukturelle Gewalt und die muss gebrochen werden. Wie, das werde ich in der dritten Serie von Bemerkungen sagen.

Jetzt zu den Kausalitäten: Was tötet die Bauern, die Pächter, die Nahrungsmittelproduzenten, dort wo der Hunger am schlimmsten wütet? Es gibt vor allem drei Kausalitäten, drei mörderische Mechanismen.

Da ist zuerst einmal ganz sicher das Agrar-Dumping. Sie wissen, dass die Industriestaaten der OECD letztes Jahr 349 Milliarden Dollar an Export- und Produktionssubventionen ausgegeben haben, dass die EU ganz massiv Überschussentsorgung in Afrika, Karibik, Anden-Amerika und Südasien betreibt. Auf jedem afrikanischen Markt heute in Dakar, in Niamey, in Cotonou können Sie deutsches, französisches, griechisches Gemüse, Geflügel, Früchte zur Hälfte oder zu einem Drittel des Preises – je nach Saison – gleichwertiger afrikanischer Inlandprodukte kaufen. Und ein paar Kilometer weiter steht der Wolof-, Mossi- oder Bambara-Bauer zehn Stunden lang mit seiner Frau und seinen Kindern unter brennender Sonne, rackert sich ab, und hat nicht die geringste Chance auf ein Existenzminimum zu kommen. Von 54 Staaten des afrikanischen Kontinentes und seiner Inseln sind 37 reine Agrarstaaten. Die Hypokrisie, die Verlogenheit der Kommissare in Brüssel ist abgrundtief. Einerseits fabrizieren sie den Hunger in Afrika – heute sind 35,2 Prozent von der einen Milliarde Menschen der afrikanischen Bevölkerung schwerst permanent unterernährt und die Zahlen steigen – und verfolgen dann mit militärischen Mitteln diejenigen Hungerflüchtlinge, die versuchen, 2.000 Kilometer über den Südatlantik, Kanarische Inseln oder vom Maghreb auf Lampedusa, Malta, an die Südgrenze Europas zu kommen. Die werden mit militärischen Mitteln, mit der FRONTEX-Organisation, Nachtsicht-Radar, Hubschrauber und so weiter, ins Meer zurückgeworfen, wo Tausende ertrinken. Also, das Agrar-Dumping ist einer der mörderischen Mechanismen für die Landbevölkerung.

Das zweite ist – und da bin ich froh, dass wir zusammen diskutieren können, weil der ideologische Gegner hier sehr, sehr stark ist – das ist die niedrige Produktivität. Es stimmt, dass in der Sahelzone zum Beispiel, bei den acht Ländern der Sahelzone, die Produktivität sehr gering ist. In normalen Zeiten – also ohne Krieg, ohne Heuschrecken, ohne Klimakatastrophe, ohne Trockenheit, wie etwa die fünf Jahre Trockenheit am Horn von Afrika, wo über 18 Millionen Menschen am Rande des Abgrunds stehen -, in normalen Zeiten, und die sind rar in dieser Weltgegend, gibt ein Hektar Getreide, im Sahel ist es Hirse, im Jahr 600 bis 700 Kilo. In Baden-Württemberg oder auch in der Bretagne sind es 10.000 Kilo. Nicht, weil der deutsche oder französische Bauer so viel arbeitsamer und kompetenter wäre als der afrikanische Bauer, uralte, großartige Bauernzivilisationen bedecken den afrikanischen Kontinent, mit Wissen um den Boden, geologisches Wissen usw. Es ist nicht eine Frage der produktiven Fähigkeit, es ist eine Frage der Investition. Wegen der erdrückenden Auslandsschuld: die 122 sogenannten Entwicklungsländer haben am 31. Dezember letzten Jahres eine kumulierte Auslandsschuld von 2.200 Milliarden, also 2,2 Billionen, US-Dollar gehabt. Alles was die ärmsten Länder verdienen mit ein wenig Baumwoll-Export, mit Erdnuss-oder Sisal-Export (Erdnüsse aus dem Senegal, Baumwolle aus Mali, Sisal aus Tansania), geht direkt an die Gläubiger-Banken in Frankfurt, London, New York, Paris oder Zürich zur Schulden- bzw. Zinsbegleichung oder zur Amortisation. Und so bleibt kein Kapital übrig zur Investition in die Subsistenz-Landwirtschaft. Es gibt weniger als 250.000 Zugtiere auf diesem Kontinent, und damit auch kaum mineralischen Dünger, es gibt schon gar nicht selektierten Samen. Lediglich 3,8 Prozent des schwarzafrikanischen Bodens sind künstlich bewässert, der Rest ist Regenlandwirtschaft wie vor 5.000 Jahren. Und jetzt kommt die Weltbank.

Übrigens: Weltbank und Europäische Entwicklungsbank, Afrikanische Entwicklungsbank, Europäische Investitionsbank, das sind öffentliche Banken, die werden bezahlt von Steuergeldern der Industrieländer, also von Ihnen und von mir. Und diese Banken finanzieren, was man den Landraub nennt, das Land Grabbing. Letztes Jahr wurden den afrikanischen Bauern 41 Millionen Hektar entrissen. Meistens durch völlig intransparente Strukturen, völlig intransparente Verträge, durch Korruption, im Spiel ist fast immer auch die Korruption der einheimischen Regierung, durch 99-Jahre-Pachtvertrag oder durch Kaufverträge.

Ich gebe ein Beispiel: Mein Buch wurde ins Norwegische übersetzt. Da war ich eingeladen von den norwegischen Sozialisten, von der Regierung Stoltenberg. Das sind Sozialisten – ja, das gibt es noch in Europa! Und zwar ganz besondere. Sie sind Lutheraner, hochmoralische Menschen. Und am Ende der Diskussion hat jemand die Hand hochgehoben und hat gesagt „Ja, wie kommt denn das, dass wir in Oslo in den Warenhäusern saudi-arabische Kartoffeln kaufen können?“ Da habe ich gesagt: „Das glaube ich Ihnen nicht, das gibt es nicht.“ Am nächsten Morgen im Hotel waren fünf Gewerkschafter da, drei Frauen und zwei Männer, die haben mich mitgenommen in die Kaufhäuser. In Norwegen muss das Herkunftsland angeschrieben werden auf Englisch und auf Norwegisch. Pyramiden glänzender Kartoffeln, schöne, große Kartoffeln: „Saudi-Arabian Potatos“. Als ich in Genf zurück war, habe ich meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zusammengerufen und gesagt „Woher kommt das? Schaut mal bitte nach.“ Sie haben es sofort gefunden: In Gambela, am oberen Nil-Ufer, hat die Saudi-Arabian Development Corporation des Scheichs Mohamed Al-Amoudi 550.000 Hektar Boden „erhalten“. Und die äthiopische Armee hat die dort lebenden Nuer und Anuak – das sind zwei uralte nilotische Bauerngesellschaften – vertrieben. Wohin? In die Kanisterstädte, in die Slums von Arragué, Siramo, Addis Abeba. Kinderprostitution, Unterernährung, Arbeitslosigkeit, zerstörte Familien – das ist das normale Schicksal für vertriebene Bauern. Der Scheich Al-Amoudi hat aus Sri Lanka Wanderarbeiter geholt, zu Niedrigstlöhnen natürlich, fabriziert Rosen und Kartoffeln, die er exportiert. Wohin? Dorthin, wo es Kaufkraft gibt: Nach Westeuropa, Skandinavien und Japan.

Das Land Grabbing ist außerordentlich. Darum bin ich froh, dass wir darüber reden. Die Theorien unserer Gegner, die am infamsten sind, sind diejenigen, bei denen ein empirisch verifizierbares erstes Argument zutrifft. So stimmt es, wie bereits gesagt, dass ein Produktivitätsgefälle existiert. Aber die Schlussfolgerung, die daraus gezogen wird, ist mörderisch. Es geht nicht darum, den afrikanischen Kleinbauern zu vertreiben, seine Existenz zu zerstören und das Land den Hedgefonds zu übergeben; es geht vielmehr darum, den Kleinbauern die Fähigkeit zu geben, minimale Investitionen in die Subsistenz-Landwirtschaft tätigen zu können. Dafür ist Entschuldung notwendig, eine radikale Streichung der Auslandschulden, jedenfalls für die ärmsten 50 Länder.

Die notwendige Auslandsentschuldung hat noch ein zweites Element: Der IWF, der Weltwährungsfonds, verwaltet die Auslandsschulden. Auslandsschulden kann man nicht in lokaler Währung bezahlen (in Gourdes oder Bolivianos), sondern die muss man in harter Währung bezahlen, das verlangen die Banken. Ergo, wenn der Weltwährungsfonds, wenn die „schwarzen Raben“ aus Washington einfliegen, wenn wieder einmal ein Staat am Rande der Zahlungsunfähigkeit ist, und wenn der Weltwährungsfonds wieder einmal über Refinanzierung, Schuldenmoratorium usw. oder über neue Kredite redet, dann sagt er „Wir respektieren eure Souveränität, aber wenn ihr einen neuen Kredit wollt oder ein neues Moratorium oder eine Schuldenstundung, die wir den Gläubiger-Banken im Club von Paris empfehlen, dann müsst ihr die und die Strukturreformen vornehmen.“ Und schon geht es um die berüchtigten Strukturanpassungsprogramme. Eine Konstante dabei ist stets: Militär und Fiskalstruktur wird nie reformiert. Aber die Exportflächen werden stets vergrößert. Mit Baumwolle, mit Sisal, mit Erdnüssen usw. kann man Devisen erwirtschaften. Aber dort, wo Baumwolle wächst, wächst kein Maniok. Dort wo Erdnüsse wachsen, wächst kein Reis. Das heißt, die Ausdehnung der Export-Agrarflächen zerstört bzw. vermindert die Kapazität, eigene Nahrungsmittel zu produzieren.

Jetzt zu den mörderischen Mechanismen, die die Stadtbevölkerung bedrohen, insbesondere die 1,2 Milliarden Menschen, die die Weltbank „extremely poor“ nennt, die mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen müssen. Da gibt es spezifische Mechanismen, die mörderisch sind für diese 1,2 Milliarden extrem armer Menschen, die die Slums der Welt bevölkern, die Calampas von Lima, die Favelas von Brasilien, die Slums von Karachi, die Smoky Mountains von Manila.

Der erste Mechanismus ist mit Sicherheit die Nahrungsmittelspekulation. Sie wissen, dass die sogenannte Finanzkrise, der Banken-Banditismus, 2007/2008 an den Finanzbörsen Vermögenswerte in Höhe von 85.000 Milliarden, also 85 Billionen, US-Dollar vernichtet hat. Daraufhin sind die großen Hedgefonds, die Großbanken, die Großspekulanten umgestiegen von den Finanzbörsen auf die Rohstoffbörsen und insbesondere auf die Nahrungsmittelbörsen. Goldman Sachs offeriert schon heute wieder Derivate – komplexe, intransparente Finanzprodukte – nicht nur auf Immobilien, sondern auch auf Reis, Zucker, Soja, Mais, Weizen, Hirse usw. Die Hedgefonds machen an der Chicago Commodities Stock Exchange völlig legal mit den üblichen Börseninstrumenten – also Short Selling, Leverage, Futures usw. – astronomische Profite. In acht Monaten – seit dem 1. September dieses Jahres rückwärts gerechnet – hat sich Mais auf dem Weltmarkt um 63 Prozent verteuert. Die Tonne Weizen hat sich auf heute 271 Euro verdoppelt. Und der Weltmarktpreis für die Tonne philippinischen Reis ist in denselben acht Monaten von 110 Dollar auf 1.200 Dollar gestiegen. In den Kanisterstädten der Welt, in denen die Mütter mit ganz wenig Geld die tägliche Nahrung ihrer Kinder kaufen müssen, sterben die Kinder.

Ich erzähle eine kurze Geschichte, um schneller vorwärts zu kommen. Ich war kürzlich, im Juni, auf einer UNO-Mission in Bolivien. Da kommt man auf 4.200 Metern nach El Alto, dort kann man kaum atmen. Da bleibe ich immer zwei, drei Tage vorher unten in Lima, bevor ich dann diese Strecke mache. In Lima kenne ich eine Calampa, so eine Kanisterstadt, einen Slum. Da habe ich Bekannte, sogar Freunde, kann ich sagen. Bei Sonnenuntergang kommen die Mütter vor das Reis-Depot. Da war ich dabei, bis Mitternacht bin ich dort gestanden. Keine dieser Frauen hat auch nur einen halben Sack Reis gekauft, was immer auch die Zahl ihrer Angehörigen war; keine ein Kilo. Alle haben den Reis lediglich in Pappbechern gekauft. Dann geht die Frau nach Hause, macht Feuer unter dem Kessel, wenn das Wasser brodelt, leert sie den Becher in das siedende Wasser, dann schwimmen einige Reiskörner auf dem Wasser. Und das ist die Nahrung der Kinder für den Tag. Das ist die Situation heute. Die Nahrungsmittelspekulation ist verantwortlich für den Tod.

Die Weltbank sagt, es seien seit Beginn des Jahres etwa 162 Millionen Menschen – ich glaube, es sind sehr viel mehr. Und ich füge – sozusagen in Klammern – hinzu: Von denen uns nur der Zufall der biologischen Geburt trennt. Wenn ich also von den Opfern rede, könnte ich auch von uns reden.

Die Spekulanten haben noch ein anderes Verbrechen, wenn man das moralisch-strafrechtlich sehen will, auf dem Gewissen: Sie haben die Industriestaaten gezwungen, ihre Verluste mit öffentlichen Geldern zu decken, um so die Bankenkredite wieder in Gang zu setzen. Geld, das bei der Finanzierung des Welternährungsprogramms fehlt. 2009 hat das WFP entsprechend etwa die Hälfte seines Budgets verloren, weil die Einzahlungen entsprechend gekürzt wurden.

Sie wissen, es gibt – die UNO-Sprache ist unglaublich bürokratisch, schlimmer als beim Militär – den strukturellen Hunger, den „silent hunger“, den unsichtbaren Hunger, der gewissermaßen implizit ist. Das tägliche Massaker ist untrennbar an die Unterentwicklung der Strukturen, der Produktivitätsstrukturen von Entwicklungsländern, gebunden. Und dann gibt es den konjunkturellen Hunger, die Hungersnot, den sichtbaren Hunger. Wenn man Glück hat sieht man das sogar im deutschen oder schweizerischen Fernsehen zwei, drei Sekunden lang. Man sieht dann ein Kind im Sudan, in Darfur. Wenn ein Krieg oder eine Klimakatastrophe eine Ökonomie vernichtet, wenn diese zusammenbricht, dann redet man vom konjunkturellen Hunger. Und der ist dann sichtbar – oder könnte jedenfalls sichtbar sein, wenn man hinsieht.

Für den sichtbaren Hunger ist das World Food Program zuständig, das Welternährungsprogramm, indem sie humanitäre Soforthilfe leistet. Ich war kürzlich in Nyala, einem der 17 Hungerlager in Darfur im West-Sudan. Dort richtet eine islamische Diktatur seit vier Jahren fürchterliches Leid an unter drei afrikanischen Völkern: die Massalit, die Zaghawa, und die Fur. Wenn im Lager Nyala, in dem 160.000 Menschen hinter Stacheldraht eingepfercht sind und von Blauhelmen bewacht werden, nicht alle drei Tage die weißen Toyota-Lastwagen à 27 Tonnen mit der blauen UNO-Fahne kommen, mit den Mehlsäcken, mit den Wasserkanistern, mit den Reissäcken, dann sterben die Menschen. Punkt.

Eine Frau, die sich 500 Meter vom Stacheldraht entfernt, um Wasser zu holen oder Brennholz zu holen, hat alle Chancen, von den Dschandschawid, den Reitermilizen, den Söldnern von Omar Baschir erwischt, gefangen zu werden, vergewaltigt zu werden und häufig auch getötet zu werden. Das kann die humanitäre Soforthilfe nicht verhindern.

Das World Food Program hatte 2008 ein Budget von 6 Milliarden Dollar pro Jahr. Heute beträgt der Haushalt 2,8 Milliarden. Und zwar, weil die Industriestaaten wegen der Finanzobligationen gegenüber ihren Banken die Beiträge für das WFP zusammen gestrichen – sehr, sehr gekürzt oder total gestrichen haben. Das ist auch wieder kein Vorwurf an Frau Merkel oder an Herrn Cameron oder an irgend jemand anderen. Die Frau Merkel wurde gewählt, um die deutsche Wirtschaft in Gang zu halten. – Es geht nicht um Verurteilung. Frau Merkel hat diese Aufgabe. Die Kinder von Darfur sterben ja nicht am Kurfürstendamm. Die sieht man nicht, die wählen auch nicht. Frau Merkel, Herr Cameron, Herr Hollande usw., wie diese Menschenfreunde alle heißen, die wurden ja nicht gewählt, um die sterbenden Kinder aus Somalia, Äthiopien, Dschibuti am Leben zu halten, sondern – es sei noch einmal gesagt – um ihre eigene Wirtschaft wieder in Gang zu bringen bzw. am Laufen zu halten. Aber ganz sicher ist, dass hier die Spekulanten ein zweites Mal töten. Und dafür gehörten sie vor ein Verbrechertribunal gestellt, vor ein internationales Verbrechertribunal für Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Dann die Agrar-Treibstoffe. Das ist der zweite mörderische Mechanismus. Letztes Jahr hat – ich nehme den größten Produzenten, die Vereinigten Staaten von Amerika – letztes Jahr hat die Regierung Obama mit großer Subvention aus Washington 138 Millionen Tonnen Mais verbrannt, 42 Prozent der amerikanischen Ernte, und dazu Hunderte von Millionen Tonnen Getreide, um Bioethanol und Biodiesel herzustellen. Hier bin ich wiederum froh, dass wir zusammen diskutieren können, weil wiederum die Legitimationstheorie dafür, für diese Agrotreibstoff-Produktion, auf den ersten Blick überzeugend tönt. Es stimmt, dass das Klima sich negativ verändert. Es stimmt, dass diese negative Veränderung von den fossilen Brennstoffen, von der fossilen Energie (CO2, Ozonschicht usw.) herkommt. Es stimmt, dass auf den ersten Blick die Ersetzung von fossiler Energie durch vegetale Energie eigentlich vernünftig erscheint. Kommt noch eine strategische Überlegung von Obama hinzu, die auch nicht einfach zynisch ist. Man kann nicht einfach sagen, der ignoriert oder der kümmert sich nicht um Menschen, die zu Millionen verhungern. Das wäre eine ganz unmarxistische Sicht. Amerika, 330 Millionen Einwohner, ist trotz der relativ kleinen Einwohnerzahl immer noch die weitaus größte Industriemacht der Welt. Jedes vierte Industrieprodukt auf diesem Planeten wird von Amerikanern hergestellt. Der Rohstoff ist das Erdöl. 20 Millionen Barrel pro Tag werden gebraucht in Amerika, um diese unglaublich eindrückliche Maschine in Gang zu halten. Von diesen 20 Millionen Barrel werden nur acht Millionen zwischen Alaska und Texas, also in den USA selbst, gefördert; zwölf Millionen – ein wenig mehr, 61 Prozent – müssen eingeführt werden. Und zwar aus Regionen, die sehr instabil sind: das Niger-Delta, Zentralasien, der Mittlere Osten usw. Was wiederum die Amerikaner dazu zwingt, ein astronomisches Militärbudget bereit zu stellen und aufrecht zu erhalten. Der Kriegsverbrecher Rumsfeld hat gesagt: „Amerika muss im Stande sein, vier Kriege auf vier Kontinenten gleichzeitig zu führen.“ Um dieses Erdöl und um andere wichtige Rohstoffe. So zahlen die USA Milliarden an ihren Söldner-Staat Israel, sie halten die korrupten Emirate am Golf aufrecht. Und Obama kann kein Sozialprogramm, keine Krankenversicherung finanzieren, wenn er nicht das Verteidigungsbudget, das Pentagon-Budget herunterfährt. Das Pentagon-Budget herunterfahren kann er aber nur, wenn er den Erdöl-Import herunterfährt. Den Erdöl-Import wiederum kann er nur herunterfahren, wenn er die fossile Energie soweit es geht durch vegetale Energie ersetzt. Das verstehe ich.

Aber wenn Sie ein Auto haben, das mit Bio-Ethanol funktioniert, und in Skandinavien ist das schon Gang und Gäbe, dann hat das beispielsweise einen 50-Liter-Tank. Wenn Sie diesen mit Bioethanol oder Biodiesel auffüllen, müssen Sie 352 Kilo Mais verbrennen. Mit 352 Kilo Mais lebt ein Kind in Sambia oder Mexiko, wo der Mais Grundnahrungsmittel ist, ein Jahr lang. Was immer die Legitimationstheorie für Agrotreibstoff-Fabrikation durch Verbrennen von Millionen Tonnen von Nahrungsmitteln sein mag – es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und nicht annehmbar. Gegen die Klimakatastroph kann man auch mit anderen Mitteln kämpfen – öffentlicher Verkehr, Energiesparen, Solarenergie, aquatische Energie, Helio-Energie usw.

Es lag mir daran, die hier vorgestellten Bemerkungen analytisch mit ein wenig Zeitaufwand präsentieren zu können. Alle diese Probleme, die Legitimationstheorien usw. Ich habe das auch in meinem neuen Buch getan. Ich war acht Jahre der erste UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Das Buch ist eigentlich mehr ein Erlebnisbericht. Aber ich kann in dem Buch und wo immer ich will jetzt endlich sagen, wer die Halunken sind. Ich muss ja morgen nicht wieder in den Präsidentschaftspalast, die multinationale Handelskammer oder die Weltbankdirektion und verhandeln. Ich sage in dem Buch auch, wo ich verraten habe – das habe ich auch – und am Schluss sage ich, wo Hoffnung ist. Das Buch soll eine Waffe sein zum Aufstand des Gewissens.

Aktuell bin ich Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates. Auch vor diesem Hintergrund sage ich, böse sein ist nicht einfach, es braucht dazu immer eine Legitimationstheorie. Die Weltbank kann ja nicht einfach das Land Grabbing, den Landraub, praktizieren, in reinem Zynismus; sie braucht dafür eine Legitimationstheorie. Auch um Agrar-Treibstoffe zu produzieren, wird eine Legitimationstheorie benötigt. Um die Schuldknechtschaft aufrecht zu erhalten, ebenfalls. Und deshalb ist es wichtig, wäre es wichtig, wenn wir diskutieren könnten, wie diese Legitimationstheorien funktionieren und wie sie öffentliche Meinung weitestgehend beherrschen. Der theoretische Klassenkampf, wie Sartre sagt, den haben wir nicht verloren, aber wir sind sicher derzeit auf der minoritären Seite. Es gibt den materiellen Klassenkampf, das wissen Sie; und es gibt den theoretischen Klassenkampf, der ist ebenso wichtig. Es ist der Kampf um die Legitimationstheorien der Herrschaftsklassen-Praxis. Diesen theoretischen Klassenkampf, den müssen wir mit aller Intensität führen, wenn es um das tägliche Massaker des Hungers geht.

Jetzt: Wo ist Hoffnung? Ich war lange Jahre Mitglied des Büros der Sozialistischen Internationalen und auch Abgeordneter von Genf im eidgenössischen Parlament, im nationalen Schweizer Parlament. Das hat absolut nichts genützt. Ich habe dem Willy Brandt geglaubt, als ich jung war vor 200 Jahren, dass das Kollektivbewusstsein ständig steigen wird, das einforderbare Bewusstsein, wie Adorno sagt. Dass immer umfassender gerecht empfunden würde und dass sich das dann umsetzen würde in steigende Wähler-Majoritäten, in Mehrheiten, und dass so der demokratische Sozialismus eigentlich wie ein goldener Regen notwendigerweise kommen müsste. Das glaube ich heute überhaupt in keiner Weise mehr. Ich glaube hingegen an die subversive Integration in die bestehenden Strukturen. Was das ist, dazu später. Willy Brandt hat uns immer gesagt, wenn ihr öffentlich redet, wo immer ihr öffentlich redet, analytisch muss es lupenrein sein, aber am Schluss muss Hoffnung sein. Keiner darf aus dem Saal gehen ohne Hoffnung. Und wenn einer herausgeht ohne Hoffnung, dann hättet ihr zu Hause bleiben sollen.

Wo ist Hoffnung? Und jetzt sage ich nicht die Hegelianische Hoffnung der Negation der Negation, auch nicht die utopische, die Hoffnung der Negation des Existierenden; sondern wenn ich Hoffnung sage, geht es um ein konkretes, unmittelbar realisierbares politisches Projekt. Sie können jeden dieser mörderischen Mechanismen nehmen, die verantwortlich sind für das jedes Jahr aufs Neue millionenfache Massaker von Menschen auf diesem Planeten durch Hunger, jeder dieser Mechanismen ist menschengemacht und kann von Menschen gebrochen werden.

Übrigens gibt es ein Paradox, das ich, wenn ich eine Minute mehr Zeit hätte, noch gerne erwähnen würde, das mich sehr überrascht hat. Ich bin im calvinistischen Mittelstand im Berner Oberland aufgewachsen, mit elsässischen Eltern, mein Großvater war Landarzt und ist aus dem Elsass geflohen, und mein Vater war Gerichtspräsident. Wie die meisten von Euch habe ich immer geglaubt, der Hungertod sei ein Verlöschen, ein langsames Verlöschen. Lebensenergie wird ausgegeben wenn man arbeitet, wenn man lebt, wenn man atmet, wenn man sich bewegt, und die muss ersetzt werden durch neue Energie, eben die Kalorien, durch Proteine usw., damit sie wieder rekonstituiert werden kann. Und wenn die fehlt oder ungenügend da ist, habe ich immer geglaubt, dann gäbe es eben ein Sich-Abschwächen und ein langsames Verlöschen, wie eine Kerze einmal verlöscht – das wäre dann der Hungertod. Das stimmt aber gar nicht. Der Hungertod ist eine der fürchterlichsten Todesarten, die es überhaupt gibt, der schmerzhaftesten, schrecklichsten Todesarten. Was ganz sicher ist, die Agonie folgt immer denselben vier Stadien, ob es jetzt um die Mongolei geht oder ob ich das in Bangladesch gesehen habe, in einer Kanisterstadt in Dakar, oder in der Sierra von Jocotán bei den schwerst unterernährten Maya-Bauern auf 2.200 Meter in Guatemala. Die Agonie ist immer dieselbe. Die Kausalitäten sind vielfach, die zum Tod führen. Die Kausalitätsketten unterscheiden sich. Die Agonie ist immer dieselbe. Ein Mensch kann, das wissen Sie, drei Minuten ohne zu atmen überleben, kann drei Tage ohne jegliche Flüssigkeit normal überleben, kann drei Wochen ohne Nahrung überleben. Dann beginnt die Degeneration. Zuerst werden die Fett- und Zuckerreserven aufgebraucht. Dann werden die Opfer lethargisch, sie verlieren rapide an Gewicht, das Immunsystem bricht zusammen, dann kommen die Infektionen der Mundpartien und des Metabolismus, die blutigen Durchfälle, das ist dann schon sehr, sehr schmerzhaft, es sind schreckliche Schmerzen. Dann beginnt der Raubbau an den Muskeln. Und dann verändert sich die Haut, Kinder sehen aus wie Greise, liegen im Staub, können sich nicht mehr aufrecht erhalten. Und dann kommt der Tod. Das ist ein schrecklicher, sehr, sehr schmerzhafter Tod.

Noch einmal gesagt: Wir reden von Massenmord. Wir reden nicht – das muss ich ja hier gar nicht sagen – von einem Naturereignis. Wir reden von Massenmord, der Täter hat, der Komplizen hat und der morgen früh aus der Welt geschafft werden könnte. Sie können jeden dieser mörderischen Mechanismen nehmen, jeder ist menschengemacht und kann von Menschen gebrochen werden. Wobei wir vom demokratischen Rechtsstaat reden. Wenn wir in Honduras diskutieren würden oder in Peking, wäre das etwas Anderes. Wir reden in Berlin. Und Deutschland, meiner Ansicht nach, ist sicher die lebendigste Demokratie dieses Kontinentes, ist dazu noch die dritte Wirtschaftsmacht in der Welt, und es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Morgen früh können wir den Bundestag zwingen, das Börsengesetz zu revidieren. Keine Börse der Welt funktioniert im rechtsfreien Raum. Alle sind normativ bestimmt von einem nationalen Gesetz. Ein Artikel mehr: „Es sind verboten Spekulationen auf Grundnahrungsmittel, die nicht von einem Verbraucher oder von einem Produzenten getätigt werden.“ Das können wir verlangen.

Der Herr Schäuble ist ja nicht vom Himmel gefallen. Er glaubt es vielleicht, aber es ist nicht so. Der ist da, weil er auf Zeit durch Delegation des Volkes dahin gesetzt wurde, indirekt, über Bundestagsmehrheiten. Wenn der im Januar zur Generalversammlung des Weltwährungsfonds nach Washington fliegt, dann können wir ihn zwingen, dass er nicht mehr für die Gläubiger-Banken in Frankfurt und anderswo auf der Welt stimmt, sondern für die verhungernden Kinder, das heißt, für die Totalentschuldung der 50 ärmsten Länder dieser Welt. Dazu kommt, Deutschland ist eine Großmacht im Weltwährungsfonds. Sie wissen, die UNO, das sind 195 Staaten, alle Staaten der Welt außer dem Vatikan, aber den brauchen wir wirklich nicht, den Finsterling da aus Rom. In der UNO gilt „One state, one vote. – Ein Staat, eine Stimme.“ Der kleinste Mitgliedsstaat der UNO ist Vanatatu im Südpazifik, 55.000 Einwohner, der größte, die Volksrepublik China mit 1,3 Milliarden Menschen. China und Vanatatu haben jeder eine Stimme. Das ist gut. Das ist Zivilisation. Aber im Weltwährungsfonds ist das anders: „One dollar, one vote.“ Da gilt die Finanzkraft des Mitgliedsstaats und dort hat Deutschland eine entscheidende Stimme. Wir können Herrn Schäuble zu einem ganz anderen Verhalten zwingen.

Wir könnten Agrarminister zwingen, dass sie bei den nächsten Diskussionen in Brüssel, beim Agrarminister-Treffen das Verbot, das Unterlassen des Agrar-Dumpings verlangen. Das können wir durchsetzen. Deutschland ist kein Produzent von Agrar-Treibstoffen, importiert aber, hat auch mitgemacht bei der europäischen neuen Direktive, die verlangt, fünf Prozent des Energieverbrauchs auf dem Kontinent mit Vegetalenergie aufzubringen. Wir können per Zollgesetz den Import von Agrar-Treibstoffen, die aus verbrannten Nahrungsmitteln gemacht sind, können wir verbieten.

Che Guevara hat gesagt: „Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse.“ Die revolutionären Prozesse sind, das hat Hans See sehr schön gesagt, absolut mysteriös. Und es gibt nichts Schlimmeres als einen Intellektuellen, der hier steht und sagt: „Jetzt sage ich euch, wie die Geschichte weitergeht.“

Die Lehre, die ich gezogen habe, aus meinen acht Jahren als Welthunger-Berichterstatter, ist eine sehr widersprüchliche. Die empirisch erlebte Ungerechtigkeit, die wird immer schlimmer. Der Hunger, die Zerstörung werden immer schlimmer. Wenn Sie die demografische Kurve nehmen, dann steigt zwar die Hungerkurve weniger schnell als die demografische Kurve, was dann der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu sagen erlaubt „ja, der Hunger geht zurück“; aber es ist eben nicht so! In absoluten Zahlen steigt der Hunger. Auf jedem Kontinent. Und er steigt jetzt auch hier. Der Dschungel kommt auf Europa zu.

Im Mai war ich in Spanien und Cayo Lara Izquierda Unida machte dort einen Vorstoß, ebenso wie die Schweizer Jusos, gegen die Nahrungsmittelspekulation. Da kam gerade der UNICEF-Bericht „Niños en Espana“ über die Kinder-Situation in Spanien heraus. In Spanien sind 2,2 Millionen Kinder unter zehn Jahren schwerst permanent unterernährt. Wegen der fürchterlichen Austeritätspolitik von Rajoy, verordnet von Frau Merkel, sind alle Schülerspeisungen gestrichen und 90 Prozent der Sozialleistungen für ärmste Familien gestrichen. Es gibt eine Oxfam-Untersuchung für England. Oxfam hat in der Elementary School, also in der Primarstufe, eine landesweite Untersuchung durchgeführt. Das war zu Beginn dieses Jahres. 55 Prozent aller Lehrerinnen und Lehrer haben gesagt, dass sie Nahrungsmittel in die Schule bringen, weil einige oder mehrere Kinder ohne Morgen-Essen bleich in die Schule kommen und dem Unterricht nicht mehr folgen können. Und deshalb müssen die Lehrerinnen und Lehrer Nahrungsmittel und Milch in die Schule bringen, damit diese Kinder dem Unterricht dann folgen können. Ich habe ähnliche Sachen aus Berlin gehört. Ein Freund von mir ist bei der taz und seine Frau ist am Prenzlauer Berg Schullehrerin und die sagt, dass auch sie Kinder ohne Frühstück hungrig in der Schule empfängt. Also der Dschungel schreitet voran, auch in Europa.

Das gibt Hoffnung aus zwei Gründen: Erstens lernen jetzt die Europäer, was sie über Jahrhunderte den Völkern des Südens angetan haben. Die Weißen – wir – sind heute 13,8 Prozent, waren nie mehr als 15 Prozent in der ganzen Menschheitsgeschichte. Und seit 500 Jahren beherrschen diese Weißen mit immer neuen Ausbeutungs- und Unterdrückungssystemen, Sklaverei, direkte territoriale Besitznahme usw. diesen Planeten. Und jetzt gibt es langsam, langsam, langsam eine Identität in der Erfahrung. Und das stützt das Identitätsgefühl. Immanuel Kant, der von Hans See ja so kritisiert wird, sagt: „Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.“

Und wenn Sie sich umsehen – die Risse, von denen Che Guevara redet: Unglaublicher Fortschritt, jenseits der Institutionen. Ich glaube, dass die Institutionen, so wie wir sie heute kennen, langsam absterben werden. Die planetarische Zivilgesellschaft, die ist ein neues historisches Subjekt: Attac, Greenpeace, Via Campesina, die Frauenbewegung usw. Es ist eine Reihe von Fronten gegen den Raubtier-Kapitalismus, die sich sektoriell konstituieren, die einmal im Jahr zusammenkommen im Weltsozialforum. Da gibt es kein Zentralkomitee, kein Programm, keine Parteilinie, nichts; es gibt nicht einmal eine Schlusserklärung, die abgestimmt wird, sondern es gibt nur einen Umzug am Schluss. Wo diese Bruderschaft der Nacht weltweit plötzlich sichtbar wird. Und es gibt unglaubliche, mirakulöse Fortschritte. Vor zwölf Jahren in der Technischen Universität Berlin, da war ich dabei, wurde Attac gegründet, eine Bewegung, die das Finanzkapital durch die James-Tobin-Steuer negativ besteuern will, graduell, damit seine Umlaufgeschwindigkeit gestoppt wird. Die Attac-Steuer damals – bis vor kurzem hieß es „Reine Utopie, das hat dieser Nobelpreisträger, dieser James Tobin 1972 da erfunden, da spinnt einer in Princeton und da sind ein paar deutsche Junge, die glauben daran, reine Utopie“. Heute wird das diskutiert in der EU und Deutschland und Frankreich sind dafür. Also: die Risse entstehen. Karl Marx hat gesagt: „Der Revolutionär muss im Stande sein, das Gras wachsen zu hören.“ Und deshalb bin ich voller Hoffnung. Der Aufstand des Gewissens steht bevor. Wie er sich konkretisieren wird in den Herrschaftsländern? Ganz sicher ist, dass wir alle, laut Grundgesetz, alle Waffen in der Hand haben, um diese kannibalische, mörderische Weltordnung zu brechen.

Ich möchte schließen mit einem Zitat von Pablo Neruda, dem Freund von Allende, umgekommen auf der Isla Negra drei Wochen nach dem gewaltsamen Tod von Allende, also nach dem 11. September 1973, wahrscheinlich vergiftet von diesem Schwerverbrecher Pinochet. Im „Canto General“, also in diesem unglaublichen epischen Gedicht über das Entstehen Lateinamerikas, am Schluss schreibt Pablo Neruda den Vers: „Pueden cortar todas las flores, pero jamás detendrán la primavera. – Sie (unsere Feinde) können alle Blumen abschneiden, aber nie werden sie den Frühling beherrschen.“

Ich danke Ihnen.