Dr. Robert Steigerwald: Ethik & Ökonomie

1. Ethik und Ökonomie oder Ökonomie und Ethik, welcher Thematik gehört der Primat?

Max Weber hat in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die Frage zugunsten der Ethik beantwortet. Er versuchte zu beweisen, dass der Kapitalismus aus dem Protestantismus, aus seiner Ethik der Sparsamkeit hervor gegangen sei. Freilich erörterte er das Thema nicht aus jener Problemlage, mit der wir es heute zu tun haben. Ihm ging es um die Abwehr des Marxismus, der marxistischen Abeiterbewegung. Uns geht es um die Abwehr von Katastrophen, die der Gattung heute drohen. Wir fragen uns, ob man und wenn ja, was man dagegen tun kann. In diesem Zusammenhang geht es uns um Ethik. Und um Ökonomie! Zu diesem Problemkomplex gibt es eine breite Diskussion. Es ist ziemlich weit in das Bewusstsein der Menschen eingedrungen, dass wir so, wie wir gegenwärtig leben, nicht weiter leben dürfen, wenn wir der ökologischen Katastrophe entgehen wollen. Wir wollen einen Blick auf verschiedene Arten der Diskussion werfen, die sich herausgebildet haben.

Zuerst die offizielle US-amerikanische Debatte:

In 1000 Aufsätzen von Klimaforschern seit 1993 hat nicht ein einziger den durch Menschen verursachten Klimawandel angezweifelt. Aber da die Abwehr der aus dem Klimawandel sich ergebenden Gefahren nicht ohne Profitabstriche zu haben ist, hat die „Global Cilmate Coalitition“, ein Zusammenschluss der US-Energie- und Autobranche, diesen Einfluss menschlicher Aktivitäten auf das Klima bestritten. Bush hat 2001 einen der an dieser Vernebelungspolitik beteiligten Männer zum Chef der Umweltabteilung im Weißen Haus ernannt. Bis Juni 2005 ließ er alle Hinweise von Regierungsbeamten zum Klimawandel zensieren. Dies als eine erste Art der Debatte.

Nun eine zweite. Ich würde sie Ethik der Lüge nennen. Sie befasst sich mit allen Problemen gesellschaftlicher Art mittels dieser Ethik der Lüge. Es wäre möglich, ein ganzes Wörterbuch über diese „Ethik“ anzulegen. Ich will nur einige Wörter aus diesem möglichen Wörterbuch der Lüge anführen. Wir müssen die Grundwerte unserer Verfassung der Globalisierung anpassen. Die traditionellen Deutungsmuster muss man ersetzen durch solche, die zum freien Spiel des Überlebenskampfes fit machen – das ist übrigens eine typische Formel aus dem Lager jener, die Darwins Theorie dazu missbrauchen, die Konkurrenzgesetze des Kapitalismus als Naturgesetze zu deuten. Wir dürfen uns nicht gegen die Spielregeln der Marktgesetze versündigen. Der Wirtschaftsstandort verlangt dieses und jenes. Würdigen wir das nicht, so macht dies den Standort und damit die Arbeitsplätze, das Sozialsystem usw. usf. kaputt

Eine dritte Version besteht darin, auf vielfache Weise den Menschen ein Gefühl der Ohnmacht zu vermitteln: Man kann da ja doch nichts machen, nichts ändern.
Es gibt noch mehr solcher Arten von Debatten, die eine andere Orientierung in der Ethik und der Ökonomie zu verhindern suchen. Es gibt aber auch eine Kritik an der kapitalistischen Ökonomie, die sich der Ethik bedient. Sie finden wir in der Regel in offiziellen Verlautbarungen der Kirchen. Da wird der Kapitalismus oft treffender moralisch, also ethisch kritisiert, als das etwa in PDS-Papieren geschieht. Das Problem ist aber, dass das Kapital – es wäre natürlich froh, wenn es nicht einmal solche moralische Verurteilung seines Systems gäbe, aber wenn es nun mal nicht anders sein kann – es ist also so, dass das Kapital mit solcher moralischer Kritik leben kann.. Gefährlich wird es erst, wenn von der Ebene der Ethik und Moral, des Ideologischen zur Ebene des Materiellen, zu jener der wirklich-handgreiflichen Kapitalismus-Kritik übergegangen wird.

Zur Abwehr solcher Gefahr gibt es mindestens zwei Strategien:

Die erste sagt, dass nicht nur der Kapitalismus, sondern auch der Sozialismus verurteilenswert seien. Das ist die Linie etwa päpstlicher Verlautbarungen oder von Evangelischen Bischofskonferenzen. Mit den Worten Heiner Geißlers: „Es fehlt wohl die Einsicht, aber auch der Mut zu akzeptieren, dass der Kapitalismus genau so falsch ist wie der Sozialismus.“ (in: Die Zeit, 28. 08. 2003). Die zweite Abwehstrategie orientiert sich, von der katholischen Soziallehre ausgehend, an der breiten Eigentumsstreuung an Stelle sozialistischer Konzeptionen. Aber erstens wäre das nur ein Schritt zurück in frühere Phasen des Kapitalismus. Da gab es noch eine breitere Eigentumsstreuung. Aber da im Konkurrenzkampf die großen Fische die kleinen fraßen, kam es zum heutigen Stand der Dinge. Wenn dieses Zurück zum breit gestreuten Eigentum überhaupt möglich wäre, käme nur eine Wiederholung des Weges in unsere Problemlage heraus. Zweitens möge man bedenken, wie Produktion in den Großbetrieben, etwa bei VW, auf der Grundlage der Aufsplitterung des Eigentums auf Zehntausende von Kleineigentümern möglich sein sollte. Wenn diese wirklich von ihrem Eigentumsrecht als Verfügungsrecht über die Produktion Gebrauch machen wollten.

Es gibt eine Ablenkungsstrategie. Gespeist von der lebensphilosophischen Rationalismus-Kritik und im Gefolge der Rationalismus-Diskussionen der Frankfurter Schule (Horkheimers Aufsatz „Über traditionelle und kritische Theorie“, Horkheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“, Habermasens Konzeption der „instrumentellen Vernunf“) wird dem rationalen Handeln – und kapitalistische Betriebe sind um größtmögliche Rationalität der Ausnutzung von Mensch und Material bemüht – die Verantwortung dafür aufgebürdet, dass wir in unsere prekäre Lage geraten sind. Aber die Rationalität ist kein Subjekt, das handelt, sie ist ein Mittel, ein Instrument, was damit geschieht, wie es eingesetzt wird, das entscheidet nicht das Instrument, sondern sein oder seine Benutzer. An der Verantwortung des Kapitalismus, seiner durch das leitende Prinzip der Prfitmacherei pervertierten Benutzung von Rationalität geht kein Weg vorbei.

2. Wir sind Bestandteil des breiten Widerstands gegen die drohenden Katastrophen.

Dabei zeigen die bereits erörterten Konzeptionen, dass abgelenkt werden soll von den wirklichen Wurzeln der drohenden Gefahren. Sie sind nicht von der Natur, sondern von den Menschen, von ihrem Umgange mit der Natur und mit den Menschen selbst erzeugt. Wir machen die Erfahrung, dass aus der Kooperation des Menschen mit der Natur die Konfrontation mit ihr hervorgeht. Wir müssen den Ursachen hierfür nachgehen. Dabei hilft es uns, dass sich massenhaft das Gefühl, die Stimmung herausbildet, wir könnten nicht auf Dauer in der Art weiter leben, in der wir dies heute tun. Solche Massenstimmungen entstehen nicht in luftleeren Gefilden, sie haben Grundlagen, die außerhalb eben dieser Stimmungen, außerhalb des Bewusstseins, im Materiellen liegen.

Welches Materielle aber in Frage kommt, können wir an den eben geschilderten Abwehrstrategien ablesen:

Die kapitalistische Ökonomie und die sie schützende Staatsmacht unterwerfen in ihrem ausschließlichen Streben nach Höchstgewinnen die Natur dem Raubbau und die Arbeitskraft der Ausbeutung. Dadurch wurde aus der Kooperation mit der Natur die Konfrontation mit ihr. Die Menschheit kann nur dann eine Zukunft haben, wenn sie sich vom Kapitalismus befreit. Natur und Arbeit können nicht harmonisch entwickelt werden unter den Bedingungen eines Systems, über das Karl Marx einst schrieb: „Die kapitalistische Produktion entwickelt…die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: Die Erde und den Arbeiter.“ (K. Marx, Bd. 23/530).

Dies sind keine propagandistischen Zerrbilder linker, systemkritischer Kräfte. Das können wir alle an den sich häufenden, durch Menschenwirken hervorgerufenen Umwelt-Veränderungen erkennen. Es sind dies Ereignisse der unterschiedlichsten Art, und sie nehmen bisweilen auch bereits schlimmste Ausmaße an. Alle wissen es, auch jene, die es nicht wahrhaben wollen: Grundsätzliche Änderungen sind unabweisbar. Also sind Konsequenzen für Ethik und Ökonomie zu ziehen.

Max Webers Erklärung des Ursprungs des Kapitalismus aus der protestantischen Ethik der Sparsamkeit enthält einen wichtigen und zutreffenden Aspekt: Jeder kapitalistische Unternehmer oder Betrieb ist bei Strafe des Untergangs im Konkurrenzkampf gezwungen, einerseits so sparsam wir möglich mit Arbeitskraft und Material umzugehen, andererseits aber so viel wie möglich aus der Nutzung von beidem herauszuholen. Die Folge ist hemmungslose Entfesselung wissenschaftlicher und technischer Mittel. Dies führt zum erwähnten Raubbau an der Natur und zur Ruinierung der Arbeitskraft.

3. Was können wir tun? Welchen Stellenwert nimmt hierbei die Ethik ein?

Hegel schrieb 1808 an seinen Freund Niegbur: Ist erst das Bewusstsein revolutioniert, kann die Wirklichkeit nicht mehr lange standhalten. Oder, um es mit den Worten von Friedrich Engels zu sagen: Alles, was den Menschen in Bewegung setzt, muss zuvor durch seien Kopf hindurch.

Bewusstseinsbildung, ethische Bildung sind Aufgaben, denen wir uns widmen wollen. Die heutige Tagung gibt ein Beispiel. Wir zeichnen eine Aktivistin aus, die sich nicht der ideologisch und politisch erzeugten Ohnmacht beugt
Frau Diane Wilson. Und wir brandmarken einen Konzern. Den Monsanto-Konzern

Die Zweimonatszeitschrift „Marxistische Blätter“ wird über diese Auszeichnung berichten und den Aufsatz veröffentlichen. Damit erreichen wir einige Tausend Leserinnen und Leser. Wir müssen nach weiteren solchen Möglichkeiten des öffentlichen Wirkens suchen. Und da uns die sog über- und unparteilichen Medien – sie hängen doch alle an den goldenen Ketten des Kapitals! – dabei nicht oder nur selten helfen werden, müssen wir uns darum bemühen, die modernen elektronischen Mittel, die keiner Zensur unterworfen sind, zur Aufklärungsarbeit zu nutzen. Eine zweite Art von Widerstand gibt es in Gestalt kritischer Aktionen gegen Konzernen wie der Bayer-Koordination. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das im Stuttgarter Schmetterling-Verlag erschienene Buch von Janis Schmelzer aufmerksam machen, das in die verbrecherische Wirksamkeit des IG-Farben-Konzerns hineinleuchtet.

Wir sollten des Weiteren daran arbeiten, das Profil unserer Stiftung zu verdeutlichen, etwa eine Art ethischer Grundorientierung zu erarbeiten, die als unsere ethische Visitenkarte wirken könnte. Es gibt erste Versuche, diese Aufgabe zu lösen, doch erfordert dies sicher noch eine etwas längere, gründlichere und öffentlich zu führende Diskussion. Ich trage einige erste Überlegungen hierzu vor, auch weil ich mir vorstelle, eine gemeinsame Diskussion solcher Orientierungen würde uns zu weiteren Einsichten führen.

Die Menschheit versucht seit Jahrtausenden, sich Normen des Zusammenlebens, auch schon des Umgangs mit der Natur zu erarbeiten.

Schon Aristoteles hat dafür den Begriff der Ethik geschaffen, die Römer sprachen von Moral. Zwar wurde Ethik aus den Erfahrungen und Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens entwickelt, doch stellte man sie dann – damit sie auch wirklich befolgt wurde – als Sammlung von Geboten oder Verboten, erlassen durch göttliche Wesen, dar. In den drei monotheistischen Religionen ist also die Ethik göttlichen, jenseitigen Ursprungs und erheischt damit absolute Geltung. Dabei gehen alle drei monotheistischen Religionen von den gleichen, den mosaischen Geboten aus. Aber dabei ist es nicht geblieben. Über ihnen hat sich im Geschichtsprozess ein „Überbau“ herausgebildet – ich nenne als Beispiel die Sharia, aber Analoges gab es auch im Christentum – welcher ebenfalls absolute Geltung beansprucht. Entsprechend der historischen und kulturellen Unterschiede dieser „Überbauten“ führt der jeweilige Absolutheitsanspruch zu fundamentalistischen Positionen. Darin enthalten ist die Gefahr der Vergewaltigung jener, die sich nicht den Erfordernissen und Geboten des jeweiligen „Überbaus“ unterwerfen. Dies kann bis zum Terror und zur Ankündigung „eines Kampfes der Kulturen“ führen.

Religion ist aber nicht nur das Werk von Religionsstiftern und Theologen, seien diese nun dem Fundamentalismus verfallen oder nicht. Religion ist auch ein „Seufzer der bedrängten Natur“ (K. Marx), Ausdruck des wirklichen Elends und Protestation gegen dieses Elend (K. Marx). Darin begründet ist, dass Religion auch Quelle für befreiendes Wirken sein kann. „Als Adam grub und Eva spann, Wo war denn da der Edelmann?“ Sangen und fragten die Bauern ihres Aufstands von 1925. Es gibt religiöse Stimmen, die zur Vorsicht mahnen beim Umgang mit den Worten der Genesis zu orientieren: „Ziehet hin, sied fruchtbar und mehret Euch und macht Euch die Erde untertan!“ So, wie alle Weltanschauungen und Religionen die Gefahr mit sich bringen, fundamentalistisch zu entarten, so gibt es in allen auch Potenzen humanistischen Wirkens – und damit des Bündnisses im gemeinsamen Wirken gegen die uns bedrohenden Gefahren.

Für das Abendland bleibt es trotz allem eine unaufhebbare kulturelle Leistung, die Aufklärung hervorgebracht zu haben.

Sie führte einen grundlegenden Bruch insofern herbei, dass sie nicht mehr bereit war, die Lebensnormen auf eine unterhinterfragbare oberste, der Vernunft entzogenen jenseitigen Macht zu begründen: Alle gesellschaftlichen Verhältnisse materieller und ideeller Art sollten sich vor dem Richterstuhl der Vernunft bewähren müssen.

So stehen sich auf ethischem, auf moralischem wie auch auf den anderen gesellschaftlichen Gebieten zwei grundlegend verschiedene Orientierungen gegenüber: Eine Absolutheit fordernde jenseitige, von einem außerweltlichen Wesen hergeleitete und eine diesseitige, innerweltliche, vom Menschen als höchstem Wesen ausgehende.

Diese Entgegensetzungen haben auch in der Lebenspraxis ihren Niederschlag gefunden. Dem fundamentalistischen Anspruch steht der auf Vernunftgründe bauende, um Konsenssuche bemühte gegenüber. Ihr Toleranzprinzip soll bewirken, dass Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen, Werte und Religionsvorstellungen friedlich in einer und derselben Gesellschaft zusammen leben können. Schönstes literarisches Beispiel dafür ist die Ringerzählung in Lessings „Nathan der Weise“. Die Verfechter der fundamentalistischen Konzeptionen – ob christlicher, jüdischer oder muslimischer Art – haben aber immer wieder versucht, diese humane und rationale Begründung des menschlichen Zusammenlebens zu zerstören. Immer wieder versuchten und versuchen sie – gegenwärtig vor allem auf dem Weg über die Präambel einer sog. Europäischen Verfassung! -, das menschliche Zusammenleben in die Fesseln des jeweiligen Fundamentalismus zu zwingen. Auch die sich auf Legenden aus uralter Zeit stützenden verstärkenden Angriffe auf die biologische Entwicklungslehre gehören mit anderem hier her.

Wir stehen jedoch an einem Wendepunkt, der von uns verlangt, um des Überlebens der Menschheit Willen sich von solchen Orientierungen zu verabschieden. Wir sind zwar aus der Natur hervorgegangen und existieren nur in Kooperation mit ihr. Bedeutet dies, dass wir eine an der Natur orientierte Ethik, einen evolutionären Humanismus erarbeiten müssen? Natur an sich gibt es nicht. Sie hat „Geschichte“, ist nicht stabil, hat auch Prozesse, die „katastrophal“ für lebende Wesen waren oder sind. Doch die sind nicht vom Menschen erzeugte, sondern „natürliche“ Ereignisse. Stets haben wir es nicht mit Natur an sich, sondern mit einer bereits von den Menschen veränderten, teils tief greifend veränderten Natur zu tun. Gut oder böse, nützlich oder schädlich, das sind keine Naturnormen, es sind das alles Bewertungen anthropomorpher Art, vom Menschen ausgehend. Eine Ethik nach Maßgaben der Natur ist nicht möglich, denn der Natur ist es – einmal salopp gesprochen – ganz wurscht, was für uns gut oder schlecht, nützlich oder schädlich ist. Sie existiert entsprechend ihrer eigenen Gesetze, und die haben mit uns nur zu tun, wenn wir auf die Natur einwirken und dabei ihren Gesetzen in die Quere kommen. Da stoßen wir dann auf objektive Grenzen unseres Handelns. Das bedeutet: Wir müssen unserem Handeln die größtmögliche Kenntnis der Naturgesetze zugrunde legen. Das heißt auch, statt Wissenschaftskritik kritische Wissenschaft. Nicht um weniger, sondern um bessere Wissenschaft geht es. Wir sind der Meinung, es müssten einige Normen gefunden und ihnen müsste durch Überzeugungsarbeit und Konsensbemühung Geltung verschafft werden, welche den neu herangewachsenen Gefährdungen entsprechen.

Wir vollziehen unseren Stoffwechsel mit der Natur nicht, indem wir uns dieser anpassen, sondern wir passen diese uns an. Darin liegt die Möglichkeit des Konflikts, der Konfrontation, da muss angesetzt werden, also an unserem Einwirken auf die Natur. Es kann also auch nur durch Korrektur unseres Wirkens anders werden. Dies hat auch zu einer breiten Debatte über die Problematik der Ökologie geführt. Nur all zu oft wird diese Debatte eingeengt auf die Beziehung der Menschen zur Natur. Es wird dann vergessen, dass der Einstieg in das Problemfeld der Ökologie mit Human-Ökologie erfolgt, mit den Problemen des Umgangs der Menschen unter sich selbst, folglich mit der Art ihres Zusammenlebens, ihrer Gesellschaftsordnung. Es geht um eine soziale Ökologie!

Aber was heißt das? Welche Aufgaben sind bei dieser Herangehensweise zu lösen? Ich sehe als solche Normen an:

  • Wir sollten all unser Tun und Unterlassen daran ausrichten, der Erhaltung der Gattung und ihrer Individuen zu entsprechen. Wir möchten dies – in Analogie zu Erhaltungsgesetzen in der Natur – ethisches Erhaltungsgesetz nennen. Darin sind enthalten Orientierungen darüber, was wir unbedingt tun müssten, was dagegen unbedingt zu unterlassen sei, dass wir manches, das wir tun könnten, nicht in Angriff nehmen sollten. Das erfordert eine gründliche, das vielschichtige System der Ökologie analysierende Umweltwissenschaft.
  • Jederlei Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch Mensche muss überwunden werden. Es gilt der kategorische Imperativ, den Karl Marx formulierte: Es kommt darauf an, alle Bedingungen umzuwerfen, unter denen der Mensch ein versklavtes, unterdrücktes, ausgebeutetes, verächtliches Wesen ist. Der Volksmund hat das in die einfache Worte gekleidet: „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Freiheit von Not ist unabdingbare Norm, so schon in Dokumenten der UN festgeschrieben. Durch die Überwindung der Not, des Elends, der Armut werden Gründe beseitigt, welche Menschen dem Terror in die Arme treiben, denen kapitalistische Globalisierung und sog. Neoliberalismus die elementarsten Lebensmöglichkeiten rauben. Es zeigt sich immer erneut: Ohne Überwindung des am Profitprinzip orientierten kapitalistischen Wirtschaftssystems und der dieses stützenden politischen Einrichtungen ist weder Frieden zwischen den Völkern noch Friede des Menschen mit der Natur möglich, können Freiheit von Unterdrückung, von Ausbeutung und ein System wirklicher sozialer der Gerechtigkeit bei intakter Umwelt nicht erreicht werden.
  • Diese ethischen Normen grundlegender, primärer Art erfordern ihre Ausgestaltung zu konkreten, daraus abgeleiteten weiteren Normen. Hierbei fand und finde ich es als hilfreich, was der sowjetische Umweltforscher Bestushew-Lada bereits 1984, eine umfangreiche Studie abschließend, unter dem Titel „Die Welt, in der man leben möchte“, weitsichtig vorgedacht hat.
  • Eine weitere Norm muss wohl darauf gerichtet sein, ein System gesamtgesellschaftlicher und innerhalb der Gesellschaft stufenweise gegliedert nicht nur Mitbestimmungs-, sondern Kontrollmöglichkeiten zu schaffen. Alle Forschung und Anwendung auf diesem Gebiet muss öffentlich stattfinden, was notwendig die Frage des Eigentums nach sich zieht. Es müssen neue Formen der Risikoforschung entwickelt und solche der größtmöglichen Interdisziplinarität geschaffen werden. Es geht auch nicht, ohne eine hoch entwickelte Arbeitskultur, denn die neuen Möglichkeiten lassen ein einfaches Du-zu-Du-Verhältnis im Arbeitsprozess (Schlamperei, Oberflächlichkeit, Alkohol an Arbeitsplatz u. dgl.) nicht zu.

Wesentlich ist, dass wir uns Kompetenz erwerben!

Denn es werden durch die äußerst folgenreichen neuen intellektuellen und materiell-technischen Produktivkräfte völlig neue Fragen entstehen. Ich nenne hier – ohne darauf eingehen zu können – die biologisch-medizinischen oder nanotechnischen Entwicklungen, die uns ebenfalls ethische Normen und Herangehensweisen abfordern werden. Die Debatten und die erwünschten Eingriffe durch ökonomie-kritische und ökologisch orientierte Kräfte erfordern auch von uns gründliche Kenntnis der sich hier herausbildenden Prozesse. Wir können uns nicht von den medialen Gesundbetern des Profitsystems informieren lassen, das müssen wir schon selber tun. Das erfordert also den Schulterschluss mit Wissenschaftlern und Technikern, die sich ihrer Verantwortung für Mensch und Natur bewusst sind.

Die bisher im Kulturprozess erarbeiteten Bewertungen reichen nicht aus, um sich angesichts neuer Probleme zu orientieren. Aber die nötigen neuen Normen des Bewertens können nicht einfach verordnet werden. Es ist auch nicht möglich, solche Normen einfach aus theologischen oder philosophischen Konzeptionen abzuleiten. So, wie die vergangenen Normen Ergebnis des Kulturprozesses waren, wird es auch mit den neuen sein: Sie kommen nur im Ergebnis eines breiten, kontroversen, wahrscheinlich längerfristigen Kommunikationsprozesses zustande. Es geht also um Fragen der Demokratie, der Gestaltung der Wissenschaft.

Lassen sich die anstehenden Probleme durch Verbote steuern?

Auch solche Verbote müssten vom gesellschaftlichen Konsens getragen sein. Und sie wären ohne staatsähnliche Organe nicht durchsetzbar. Ich neige der Auffassung zu, dass es ohne ein gesellschaftliches Organ, das berechtigt ist, Gebote und Verbote zu erlassen, ihre Kontrolle zu überwachen und Sanktionen zu verhängen, nicht möglich ist, den sich andeutenden Gefahren Widerstand entgegenzusetzen. So lange wir kapitalistische Zustände haben, wird versucht werden, solche Verbote zu unterlaufen, sie zu durchlöchern. Auch werden unter solchen Bedingungen Verbote dazu führen, dass eine Grau- und Dunkelzone entsteht, in der genau das geschieht, das verboten wurde, und zwar so geschieht, dass es keine kontrollierende Instanzen geben wird. Es kommt also darauf an, den Primat der Gemeinschaft, der Gesellschaft in Forschung, Produktion und Kontrolle zu sichern, ohne dass damit gesagt sein soll, es wären unter solchen Bedingungen alle Probleme schwerwiegender Art schon aus der Welt geschafft.

Es geht auch darum, dem noch herrschenden Eindruck entgegenzuwirken, der Forscher brauche sich um die Folgen seines Forschens keine Gedanken zu machen, da dies in die Kompetenz der Politik falle. Eine solche Einstellung mochte angehen zu Zeiten, da zwischen Ergebnissen der Grundlagenforschung und der möglichen Anwendung Dutzende von Jahren vergingen – sofern überhaupt eine Anwendung in der Praxis möglich war. In der wissenschaftlich-technischen Revolution verkürzt sich jedoch diese Zeitspanne auf oft nur drei bis vier Jahre, und unter solchen Bedingungen sieht der Zusammenhang von Forschung, Anwendung und Verantwortung anders aus.

Wir erheben keinen Alleinvertretungsanspruch!

Wir wollen mit allen, die sich solchen oder ähnlichen Handlungsorientierungen verpflichtet fühlen zusammenwirken. Im gleichberechtigten Dialog sollten wir die Politik begleitend, im nationalen und internationalen Verbund zu wirken bestrebt sein. Lasst uns in einen breiten Prozess des Konsenses nach Überlegungen für Aktivitäten suchen, die dazu dienen Ethik und Ökonomie menschendienlich zu verbinden. Wir wollen den Menschen unserer und – soweit das in unseren Kräften steht – kommender Generationen, gestützt auf unsere geschichtlich und aktuell erhärteten Erfahrungen vermitteln, dass dazu die Befreiung der Menschheit vom Profitgier notwendig ist. Da dies nur im Ergebnis eines langwierigen Ringens der überwiegenden Mehrheit der Menschen möglich sein wird, wollen wir auf dem Weg dorthin mit Allen ohne Ansehung von Hautfarbe, Geschlecht, Nationalität und Religion um Reformen ringen. Es ist unabdingbar, gemeinsam zu streiten für die Erhaltung der den Schutz der Grundlagen allen Lebens, der Natur.

Lesen Sie die Laudatio auf Diane Wilson von Prof. Dr. Wolf-Dieter Narr